Montag, 4. November 2019
Im Heim werden vier Jahre Betreutes Malen gefeiert und die entstandenen Aquarelle und Zeichnungen mit einer Ausstellung gewürdigt. Von meinem Mütterlein, erst widerwillige aber dann doch eifrige Teilnehmerin der ersten Stunde, sind zwei Aquarelle dabei, eines eine Landschaft, unten mit umbra, oben so lichtblau und zartgelb und seelenvoll, dass mir die mit der Betrachtung einhergehende Wahrnehmung ihres wahrscheinlichen Seelenzustandes das Herz rührt. Ich drücke und küsse sie und nenne sie unentwegt meine süße Künstlerin, sie bekommt die Besprechungen des Vortrages, auch ihr Name wird genannt, haargenau mit und ist sehr bewegt, ich glaube auch, dass sie begreift, dass sie eine der erwähnten demenziell Erkrankten ist, die mit Malen angesprochen werden sollen, und macht dazu diesen weinerlichen Mund, aber im nächsten Augenblick ist dieses Gefühl auch wieder entschwunden und dann gehen wir herum und sehen uns alles an, Frau K. hat mit kleinen grafischen Grundformen größere Formen gefüllt und, guck mal, Mama, dort sieht man graublauen Wind dürrbraunes Geäst niederdrücken, und hier die Blütenpracht des Herrn S., im vorletzten Monat gestorben und da eine schön aufbereitete Kalligrafie. Dazu gibt es Kaffee, Sekt und Zuckerkuchen. Ich spreche eine Weile mit M., dem Leiter der Malgruppe, selbst bildender Künstler, wie bezaubernd er Mamas Bilder findet und ihre vorsichtige Art, Farbe aufzutragen, so als würde sie sich nur tastend der Vorstellung des fertigen Bildes nähern.

In einer anderen Kammer meines Herzens wünsche ich mich weit weg und entwerfe ein meditatives Leben in der Nähe vom Kloster Bursfelde, in Hemeln oder Oberweser, vielleicht arbeite ich dort bei Edeka und quatsche den ganzen Tag sorglos mit den Kunden, die allesamt viel Zeit haben, ich besitze vielleicht einen Garten mit Wildkräutern, der jährlich vom Hochwasser überflutet wird oder von Trockenheit zerstört und bin weit weg vom Generve der Stadt und dem Gefühl, stets erreichbar sein zu müssen. Ein Zwang, der zudem von Zwangsgedanken begleitet wird. Den möglichen Arbeitgeberinnen habe ich, jetzt in echt, abgesagt, und entgehe so dem immer deutlicher zutage getretenen Kompetenzgerangel und dem eigenen Übereifer, krass gutes Grafik-Design zu erschaffen, für ein Objekt, hinter dem ich nicht bedingungslos stehen kann. Dazu habe ich vorhin eine abschließende Mail geschrieben, die die technische und grafische Katastrophe schildert, die eine der Kundinnen mit ihrem unverständigen Alleingang angerichtet hat. Meines Erachtens. Sie selbst merkt es sicher nicht mal. Umso schlimmer.

Dudis Sohn hat sich endlich dem Vater offenbart, der weint Tränen, weil sein Kind kriminell geworden ist, Dudi weint, weil sie sich endlich von der Last des Mitwissens befreit fühlt und ich weiß wieder nicht, zu wem ich halten soll. Eigentlich zu Dudi, aber ich kenne die Geschichte natürlich so gut, dass ich Ursache und Wirkung unterscheiden kann. Dann vielleicht doch zum Neffen, den ich aber zur Zeit als so wenig zurechnungsfähig empfinde, dass sich die Auseinandersetzung nicht lohnt. Ich hatte geglaubt, dass mein Einfluss auf ihn stärker sei.

Wahrscheinlich denke ich allgemein, dass mein Einfluss stärker sei. Dies ist auch Teil meiner Zwangsgedanken, was ich hätte machen sollen, können, müssen, dürfen, es dreht sich alles dauernd herum, es ist ja auch nur ein Größenwahn, Dinge in der Hand halten zu können. Deshalb empfinde ich mein Losmachen von den Kundinnen als richtig, und auch die Trennung von der Busenfreundin, an die ich kaum mehr denke, und wenn, dann mit einem Groll, der sie nicht treffen soll, ich nehme an, sie hat genug eigenen Groll auszuhalten.

Zuvor noch, vor einzwei Wochen, hatte ich Kummer, weil das Mütterlein mich gar nicht mehr wahrgenommen hat, Die kreisenden Gedanken waren voller Vorwurf und Selbstmitleid, so als wäre ich ein Niemand, den man einfach so vergisst. Und dann wieder ihr Strahlen, wenn sie mich erkennt, mich mit kuchenverklebten Zähnen anlacht und mein Schätzchen nennt. Dann soll alles so für immer bleiben, ihr Tod eine völlig absurde Idee von mir.

Die Gruppenausstellung, bei der ich ein textiles Objekt zeige, ist etwas schräg angelaufen. Die Kuratorin hatte mich mit der Gestaltung der Einladungskarte beauftragt, das Thema war mehr oder weniger gender, vielleicht auch eine Spur androgyn oder bi dazu, angedeutete Spielarten von Sexualität bzw. mann/frau, und weil das Stichwort viel zu allgemein war, hatte keiner der anderen aufgerufenen Künstler das Thema auch nur annähernd gestreift, sondern irgendwas aus dem Archiv geholt, passt schon. Die Vernissage rückte heran, die Kuratorin war enttäuscht, die Grafik meiner Einladung machte keinen Sinn und der Redner hatte sich in der Jungschen Psychologie verhaspelt. Ich stand herum, den Beginn einer Erkältung ausschwitzend und fühlte mich so deplatziert als wäre ich unsichtbar. Ich hegte einen Groll über das Kunstvolk, dass sich besaufen kommt und Quatsch redet. Am Wochenende ist die Ausstellung vorbei, ich nehme mein Objekt wieder mit, stelle es daheim auf und erfreue mich an weiteren Plänen.

Vorhin habe ich Plätzchen gebacken. Einfache Tätigkeiten. Mein Arbeitszimmer aufgeräumt, Fäden vernäht, eine Schrift gekauft, Tee aufgegossen. Etwas schreiben und hochladen.