Freitag, 1. März 2019
Die Busenfreundin hatte aus familiären Gründen fotografisch über Martin Luther (ja, ja – sie ist eine Nachfahrin des Lutherbruders) gearbeitet und ein Dutzend Bilder in Loccum ausgestellt. Ich mag die Ausstellung und bis auf ihre Bemerkung, Kirchenglockengeläute mache sie high, gab es nichts, was ich zu benöseln hatte. Teil der Vorarbeit, auch Recherche genannt, bestand darin, Freunde und Bekannte über Luther berichten zu lassen. Ich war Teil eines Abendessens zu viert bei der Rhetorikerin, derweil die Busenfreundin uns, die Rhetorikerin, die Lieblingsdesignerin und mich, befragte.

So. Das als Einleitung.

Während die drei nun, bei Vor-, Haupt- und Nachspeise, zudem angeregt durch Sekt und Wein, allerlei Wissensgebiete streiften und Schlaues von sich gaben, blieb mir als echte und einzige Mystikerin das Wort im Halse stecken. Ich saß, mental vorformulierend, bestimmt zwei Stunden still da und fand keinen Einstieg ins lebhafte Gespräch. Ich hätte gern von Bursfelde erzählt und ich würde auch hier gerne einen Text über Bursfelde schreiben, der den europäischen Mystikern gewidmet ist, über die und deren Texte ich nun schon seit Monaten lese und studiere.

Ich habe, um es kurz zu machen, eine neue Heimat gefunden – spirituell. Hier an meinem Altar fließen nun Okzident und Orient zusammen! Es macht mir eine große intellektuelle Freude zu entdecken, dass jedes spirituelle Bemühen auf allein eine Erfahrung zielt, die in allen Kulturen gleich ist, im Christentum unio mystica genannt. Unterschieden wird sie bloß durch die sprachlichen und bildgebenden Eigenheiten des Landes und die beschränkten Fähigkeiten des Erlebenden, die alles überwältigende Einheitserfahrung darzulegen. Der Yoga hat eine zielführende Wissenschaft der Meditation entwickelt, während die europäischen Mystiker jeweils in ihrer sprachlichen Blase blieben. Theresa von Avilas Texten z. B. merkt man das Bemühen an, sich ins christliche Wortgefüge zu zwängen, um nicht der Ketzerei verdächtigt zu werden und Meister Eckhart wurde dann doch als Häretiker verurteilt, allerdings war er schon zu alt und starb, bevor das Urteil ausgeführt werden konnte. Einer der ersten Autoren, die in deutscher Sprache über die mystische Erfahrung schrieben, sonst war ja noch alles in Latein, war der Frankfurter, der über die Jahrhunderte unerkannt geblieben ist. Luther fuhr als junger Mann komplett auf dessen Theologia Deutsch ab.

Ich auch. Die vedantischen Schriften, die ich aus dem Yoga kenne, die bhagavad gita oder die Yoga Sutras, habe ich in englischer Sprache kennengelernt, in Indien durch die Vorträge meines Lehrers Swami VB und durch dessen Bücher oder die seines Lehrers, die es nur in englisch gab. Vom Sanskrit über das Englische in mein deutschsprachiges Hirn, da haben Wörter einen langen Weg hinter sich, klar, dass da einiges auf der Strecke bzw. unverstanden bleibt, bleiben muss. Die Theologia Deutsch und auch Jacob Böhmes Aurora hingegen werden direkt aus der unio mystica ins Deutsche vermittelt! Und wie!

Ich bin froh, den Umweg über Indien genommen zu haben, denn so kann ich die deutschen Schriften besser verstehen, einordnen und nutzen. Es wird mir auch klar, dass Luther, dem wohl die mystische Erfahrung verwehrt blieb, bei der Bibelübersetzung mit vielen Textstellen, auch des Neuen Testamentes, seine Schwierigkeiten haben musste. Dazu ist Yoganandas Buch Der Yoga Jesu äußerst erhellend, wo er erklärt, wie die Schlangensymbolik, die eigentlich das Aufsteigen der kundalini, meint, der Lebensenergie, ziemlich schräg missverstanden wird.

So. Und nicht zuletzt hat Luther den Mystiker Thomas Müntzer in die Enthauptung gemobbt und einige andere Zeitgenossen, die ihres Lebens nicht mehr froh wurden, als Häretiker denunziert. Wie gut, dass die Busenfreundin, bestätigt durch einen Genetiker, nur noch ungefähr ein Millionstel von Luther in ihren Genen hat. Dass ich an jenem Abend nicht sprechen konnte und wollte, war auch nur ein millionstel Teil der Spiegelung aus vergangenen Zeiten.