Montag, 17. Juli 2017
Obwohl statistisch bereits im letzten Drittel des Lebens, würde ich mich eher am Anfang der zweiten Hälfte einordnen. Dass ich 100 Jahre werden würde, war klar. Und so ist mir anscheinend dafür auch genügend Kraft und Gesundheit zuteil. Wir werden sehen. Mir scheint, es gibt immer noch viele offene Enden. Der Bildhauer hat eine Plastik in einem Park inmitten anderer; eine Gemeinschaftsausstellung, die mich teils begeistert, teils aber ratlos zurücklässt, haben doch einige Teilnehmer das Rahmenthema sehr eng ausgelegt. Ich begreife, dass unter allen tausend Ideen, die ein Künstler zu Beginn hat, irgendwann eine Auswahl geschehen muss, die weiterhin auf die eine reduziert wird, und dann einfach machen. Genausogut hätte es einen anderen Einfall treffen können realisiert zu werden. Mit diesem Gefühl stapfe ich in Gummistifeln über die durchnässte Wiese von Objekt zu Objekt. An jenem des Bildhauers habe ich selbst Hand angelegt und bin anfangs gespannt, wie das Urteil darüber ausfallen mag, später aber weiß ich, dass es nur so ausehen kann, es besteht kein Zweifel. Eine andere Idee hingegen hätte anders ausgesehen. Natürlich.

Ein anderes Leben hätte auch anders ausgesehen. Eine heimliche Neigung zur Mathematik hätte ausgebaut werden können, und ich hätte mich, von Zahlen und Definitionen umgeben, darin eingerichtet. Zahlen und Gleichungen sind wohl aber fast das gleiche wie bildliche Ideen, die im Geist reifen und am Ende Gestalt annehmen. Oder auch nicht. Diesen Sommer trage ich viele Gestaltungen in mir herum, viele Themen, auch stelle ich mir vor, wie ich sie realisiere, welche Materialen ich einsetze, welche Techniken – und an einem Punkt innehalte, um das innerlich bereits fertiggestellte Objekt dann eben nicht fertigzustellen. Was ich davon halten soll, weiß ich noch nicht. Es gibt zu viele schöne oder interessante Design- und Kunstobjekte auf der Welt, und ich kenne mich nicht gut genug aus, um in der eigenen Schöpfung nicht doch nur bei Zitat oder Nachahmung zu enden. Und trotzdem erfreue ich mich an meinem regen Geist, der mich nachts über Stunden wachhält – vorgestern habe ich eine geraume Zeit an der Trauerkarte der Mutter gearbeitet, bin aber zu keinem fertigen Ergebnis gekommen. Außerdem lebt die Mutter ja noch. Gegrüßet seist du, Maria, … beten wir oft zusammen. Manchmal weiß ich nicht, ob sie noch weiß, wer Maria eigentlich ist. Eine Freundin?

Die Vorstellung, das Leben (ebenso wie jede kleine Kreatividee) hätte auch ganz anders verlaufen können, ist aufregend. Zunehmend sehe ich mich imstande, auf Vorfälle unterschiedlich zu reagieren – es sind eben keine reinen Reaktionen mehr, sondern ich treffe eine Auswahl unter möglichen Reaktionen. Es gibt keine natürliche Reaktion, so wie man auf Aggression automatisch mit Wut kontern möge oder was die Vita eben sonst so hergibt. Hingegen kann ich nun innerhalb weniger Sekunden bewusst entscheiden, welche Beantwortung geeignet ist. Für welchen Zweck geeignet? Auch den entscheide ich in den Sekunden des Innehaltens. Wo da noch Platz ist für Spontaneität, würde die Busenfreundin jetzt sicherlich einwenden, womöglich sehr aufgeregt. Genau, würde ich antworten.

Die Errungenschaften, auf die die Shiva-Sutras zielen, gehen noch weit über die der Yoga-Sutras hinaus, und während es dort beim in der eigenen Natur ruhen bleibt, machen die Shiva-Sutras weiter bis zur absoluten Wahrheit/Einssein, was auch immer das heißen mag. Swami hebt die Möglichkeit des Erschaffens von eigenen Universen heraus, und ich frage, was man dann mit so’nem eigenen Universum macht? Was machst du denn mit dem Universum, welches dein eigener Körper ist, kontert er – und Stille legt sich über mich, vielleicht isses auch bloß Sprachlosigkeit.

Welten erschaffen. Das gefällt mir. Es ist jetzt auch nicht mehr schlimm, nachts wachzuliegen, sich was vorzustellen und es nicht zu erschaffen. Es ist alles gleich. Ich muss nicht mehr. Nicht mal mehr notieren. Das ist auf eine seltsame Art sehr befriedigend.