Jetzt habe ich endlich einen definierten Anker, der sich in meine unbenannten Aggressionen einhaken kann: Ein Missverständnis über einen Kostenvoranschlag, der meinerseits sicherlich etwas hoch angegangen war, aber äußerst tief von der Kollegin weitergegeben wurde und dann auch noch halbiert durch die Sprachkreise, die ich einzeln kalkuliert hatte. Dreieinhalb Stunden für die Aktualisierung einer Website incl. diverser Flashfilme, die ebenfalls geändert werden sollen – mittlerweile bin ich bei knapp sieben Stunden.


Von Ferne nur beobachte ich die Grabeslegung der Agentur, erheische ab und zu knappe Berichte der Busenfreundin über Vorgänge, die dort mit einer mir unverständlichen Unterwürfigkeit hingenommen werden, bei mir allerdings größte Streitlust auslösen. Ungerechtigkeit, Respektlosigkeit, Missachtung. Nach einem längeren Telefonat mit der Lieblingschefin gestern, die mich in Details einweiht, verstehe ich noch weniger, warum sie sich das antut.

Zeitgleich ist mein Arbeitspensum übersichtlich. Längerlaufende Projekte sind abgeschlossen, die kleineren Sachen, die regelmäßig gepflegt werden müssen, machen Pause. Es könnte also eine entspannte Zeit sein, die ich für Muße nutze, zum Ruhefinden, zum Gutsein zu mir. Statt dessen stresse ich mich selbst und grübele wie verrückt, lange Listen von immer wieder auftauchenden Gedanken erstelle ich im Geiste.

Die Lieblingschefin, so gern ich sie mag, hat einen großen Anteil an Schuldgefühlen zum Thema Arbeiten. Nicht nur seit ich mich vor gut einem Jahr aus der Firma zurückgezogen hatte, sondern schon vorher, 2009, als ich ins eigene Büro zog, weil mir die Fahrerei aufs Land und die Kollegennähe zu viel wurde – es war als hätte ich keine Erlaubnis dazu. Noch heute spricht die Busenfreundin davon, ich hätte sie im Stich gelassen. Tatsächlich hatten sich da Fronten aufgebaut, die eine deutliche Entscheidung forderten, entweder ich lasse sie (die Firma) im Stich oder mich selbst. Ich war (und bin) finanziell in der Lage, eine Art Neustart zu wagen, die Kollegen sich selbst zu überlassen und meinem Herzen zu folgen, wie man so schön sagt, auch wenn es bedeutete, eine Weile keine Arbeit zu haben.

Nicht zu arbeiten ist gewissermaßen anstrengend – eher noch das reine Nichtstun. Wie sehr unsere Gesellschaft davon geprägt ist, tätig zu sein. Und wenn es nur das Rumfriemeln am Mobiltelefon ist, das Rauchen, das Kaffeetrinken, und wieder sind zehn Minuten rum, wieder eine Stunde mit ein bisschen Hausputz oder Kochen verbracht, wer sitzt schon rum und macht gar nichts?

Zur Zeit versuche ich ebenfalls zu begreifen, welche Gruppe DIE Gruppe ist, jene auf die alles zuläuft, alles zugeschnitten ist, die mit den Vintage-Fahrrädern oder die mit den Kindern. Die, die Steuern hinterziehen oder Yachten besitzen, die ihr Wochenende glücklich mit Yoghurt beginnen oder die mit den Schals ihrer Mannschaft ums Handgelenk. Jene, die endlich den Deal oder das Ziel ihres Lebens erreicht haben oder die, die regelmäßig Sport machen? Sind es gar die, die sich aus alldem nichts machen und gar nicht auftauchen in Berichten, Statistiken und Kommentaren von Online-Magazinen? Was wenn es DIE Gruppe gar nicht gibt?

Und trotzdem. Er ist immer noch da, der Wunsch Teil einer Jugendbewegung zu sein. Oder irgendeiner Bewegung. Eine, die was ausmacht, die wichtig ist und Kraft hat, die Welt, wenn nicht zu verändern, so wenigstens zu bereichern. Auf der Welt sein, um dazuzugehören, zu meinen Leuten da draußen. Wo seid ihr? In den Monaten, die ich mit dem Esoteriker verbracht hatte, dachte ich, ich hätte sie gefunden. Genau betrachtet, war es eine der bescheuertsten Abschnitte meines Lebens und ich musste fliehen vor ihren geposteten Dauerherzchen und psychedelischen Bildlein, vor ihren irren Kommentaren in spirituellen Foren und den Drogenausdünstungen, die sie seit den 90ern immer noch umwehen.

Zu einem Kollegium zu gehören, das sich mit Gestaltung beschäftigt, war natürlich gut und machte großen Spaß. Die Lieblingschefin hat immer dafür gesorgt, das Gruppengefühl lebendig und stark zu halten, aber manchmal dachte ich, sie tut es nur ihretwegen. Als es darum ging, sich gemeinsam an der Firma zu beteiligen, dachte ich bei mir, mit der Busenfreundin möchte ich mein Geld nicht mischen, wo doch schon das Zusammenwohnen eine Katastrophe war und mit B. habe ich eigentlich so gar nichts zu schaffen, wieso sollte ich mich finanziell und somit langfristig an diese Menschen binden? Nicht mal würde ich sie als meine Freunde bezeichnen. Die Idee ging mangels Resonanz ein, und die Lieblingschefin, damals noch hierarchisch auf Augenhöhe, übernahm die Geschäftsleitung, um den angegrauten Lieblingschef zu unterstützen. Komplizierte Verträge wurden unterschrieben, alles mit dieser bedingungslosen Wichtigkeit, wenn es ums Geld geht. Jetzt versucht sie, die Krise abzuwenden oder wenigstens im Zaum zu halten und ich sehe, dass sich ihre Kraft und ihr Mut langsam verbrauchen und ihre sagenhafte Freundlichkeit einer Ängstlichkeit gewichen ist, die sie mit Hartnäckigkeit verteidigt. Und ich immer schön so, wie lange willst du das noch machen, wenn du tot (oder krank) wirst, kannst du ja auch nicht mehr weitermachen. Dahinter steht die Idee eines fast größenwahnsinnig zu nennenden sich selbst für unersetzlich Halten. Vielleicht ist das ein schönes Gefühl in jungen Jahren, beim ersten richtigen Job, mittlerweile bin ich aber froh ersetzbar zu sein, das befreit von überzogenen Forderungen und Erwartungen. Einfach mal behaupten, das könne man nicht – sicherlich ist es ein großes Problem der Lieblingschefin da loszulassen. Und ebenso sicherlich ist es ihr ganzer Stolz, sich aufzuopfern, und darin unterscheidet sie sich nicht von meiner Mutter und all den Müttern, die machen und tun und Anerkennung erwarten, ohne sie je zu bekommen.

Ich weiß nicht, wieso ich das so ausführlich beschreiben muss. Hinter die Vorgänge zu schauen, macht mich ratlos. Zu erkennen, was mit was anderem verknüpft ist, hilft gegen Ratlosigkeit. Tatkräftige Gruppenzugehörigkeit und Angst vor Nutzlosigkeit sind die Themen, die mich in diesen Wochen begleiten. Ich muss mal raus hier. Mit Fräulein Montez nach Lissabon zum Beispiel. Schöne Fotos, eigene Projekte, die ich mit Lust verfolgen kann und nicht mehr dieses blöde Hickhack mit der alten Firma. Loslassen.