behauptet die Nachbarin, "... alles, was man ein Jahr lang nicht benutzt hat, kann weg." Ich räume gerade in großem Stil auf, und anscheinend rede ich oft darüber, denn ich bekomme viele unterschiedliche Antworten auf gar nicht gestellte Fragen. (Daran bleibe ich gerade hängen, an den Antworten auf nicht gestellte Fragen. Wie heißen die? Ansichten? Aussagen? Be- und Anmerkungen?) Einige entschuldigen sich, dass sie nicht zum Ausmisten kommen würden, obwohl sie wollten, denn zum Beispiel die Tassensammlung sämtlicher Urlaube der 80er und 90er Jahre läge ihnen sehr am Herzen. Oder sie machen Witze über einen chaotischen Geist in einem unordentlichen Körper. Naja.

Ich sinne über künstlerische Ausdrucksformen, die keinen MottenbeAbfall verursachen oder einen möglichst geringen. Es bietet sich Zeichnen an. Dazu eine Schachtel Buntstifte, nicht zu viele, denn sie lassen sich kaum transportieren – zwölf in einer flachen Schachtel sollten reichen. Vielleicht muss man aber auch gar nicht raus zum Zeichnen. Der Blick vom Sofa durchs Fenster auf den Baumbestand im Hof im Wechsel der Jahreszeiten bietet genügend Abwechslung. Vors Fenster könnte ab und zu ein Stuhl, ein Tisch oder ein Sessel gerückt werden, auf der Fensterbank Glas und Karaffe, von Zeit zu Zeit kommt das Eichhörnchen vorbei und gräbt in den Blumenkästen nach einer Nuss. Rot- und Grüntöne herrschen vor (und ergeben Braun), ach nee, da ist ja der Himmel und die durch Lichtstimmung veränderlichen grauweißen Schattierungen der Innenwand.

Die Kuratorin/Malerin lebt in einer Riesenwohnung mit mehreren Zimmern, welche mit aneinandergelehnten großformatigen Leinwänden vollstehen. Eine DinA4-Mappe mit 70-Gramm-Papierbögen hat viel geringere Ausmaße und wäre nach einem Jahr mit einer Zeichnung pro Tag zwar gut gefüllt, könnte aber in einen Schrank gelegt werden, nachdem man etwas alte Wäsche in die Altkleidersammlung getragen hat. So müsste das gehen. Die Buntstiftschachteln werden mit losen Buntstiften neu befüllt, die Anspitz- und Radiergummireste kommen in den normalen Hausmüll.

Bei insta bin ich auf eine russische Kunstschule (простая школа – einfach Schule) aufmerksam geworden. Sie bewirbt Online- und Kurse vor Ort und veröffentlicht dazu Gespräche mit Lehrern, die ihre Arbeitsweise oder die Art des Kurses beschreiben – Malerei, Zeichnung, Collagen, Straßenskizzen. Jetzt, Anfang August, wird eine Residenzzeit geboten – dazu verbringt die Studentengruppe eine ganze Woche gemeinsam und arbeitet an der jeweiligen Aufgabe. Die Lehrer stehen zu Anleitungen und Auseinandersetzungen zur Verfügung, es wird zusammen gesund gekocht und gegessen, Yoga gemacht und überhaupt soll eine achtsame, zen-artige Stimmung entstehen und die künstlerische Selbstfindung gedeihen. Die Lehrergespräche sind auf YT zu finden und anhand der zuschaltbaren Übersetzungen lassen sie sich gut verfolgen und bieten mir Russischschülerin eine Möglichkeit, die Sprache zu vertiefen und mir ein passendes Vokabular anzueignen.

Wie gern wäre ich dort. Da ich aber aller Voraussicht erst nach drei Jahren sprechen werde (dann aber in ganzen Sätzen), ist es jetzt im zweiten Jahr für mich noch zu früh. Ich höre mir einen einminütigen Auszug eines Gespräches mit einer älteren Künstlerin an (leider ohne Untertitel) und verstehe kaum ein Wort. Es dauert ewig, das Gesagte zu übersetzen – noch vermag ich die Füllwörter nicht einzuordnen oder Phrasen wie на самом деле (tatsächlich, in der Tat) versperren mir den klaren Blick auf den Satz. Was sie dann aussagt, ist toll, dass Malen Bergmannsarbeit ist, anstrengend, erst nur eine nebulöse Idee, und nicht mal eben so wie, ach, da küsst mich grad die Muse.

Sicher ist es auch so mit einer Zeichnung. Wo fange ich an, was interessiert mich überhaupt? Die zehn rotbraunen Früchte meiner Fensterbanktomatenpflanze? Zeichne ich sie realistisch oder bloß Umrisse einfangend? Eigne ich mir diesen ungeduldigen Stil an mit großflächigen Schraffuren in Grau plus Farbakzent – einer von Zwölfen, Zweie komplementär oder bunt opak? –

Sie hören von mir.





Unabhängig von Ihren Russischkenntnissen wäre eine Reise nach Moskau derzeit keine gute Idee. Das Auswärtige Amt rät von Reisen in die Russische Förderation dringend ab, weil für deutsche Staatsbürger und -bürgerinnen die Gefahr willkürlicher Festnahmen besteht. Das Regime sammelt menschliche Faustpfänder, um bestimmte Personen, die in westlichen Ländern wegen Straftaten rechtskräftig verurteilt wurden, aus der Haft freizupressen. Eine westdeutsche Künstlerin käme da sicher sehr zupass - der Name Вадим Николаевич Красиков sagt Ihnen vielleicht etwas.

Die russischen Sicherheitsdienste sind sehr kreativ beim Konstruieren von Straftaten und Beweisen - und sie wissen, wie sie Geständnisse aus Leuten herausbekommen.

Ich habe auch einen russischen Freund in Moskau, den ich gerne einmal wiedersehen würde. Auf absehbare Zeit ist das leider nicht möglich. Und so lange Russland diesen Angriffskrieg gegen Ukraine führt und in den besetzten und annektierten Gebieten mordet, foltert und ukrainische Kinder und Jugendliche nach Russland verschleppt und zwangsadoptiert wie weiland die Nazis, sowieso nicht.

Danke für Ihre Hinweise, liebe arboretum. Ich weiß natürlich, dass eine Reise zum jetzigen Zeitpunkt ungünstig ist und die Warnungen des AA kenne ich ebenfalls.

Mein Wunsch, die Sprache zu erlernen, lässt vielleicht erahnen, dass ich die Dinge etwas anders sehe und empfinde – Einschätzungen, die sich aus unterschiedlichsten Quellen speisen.

Warten wir's ab, aus der Ferne.

Sie mögen das anders sehen und empfinden, die russische Regierung und Sicherheitsdienste aber nicht, die haben gerade ein großes Interesse daran, Leute aus westlichen Ländern festzunehmen. Und dass russische Truppen in Ukraine morden, foltern, Kids verschleppen und andere Kriegsverbrechen begehen, ist eine traurige Tatsache. Der Internationale Strafgerichtshof erließ die Haftbefehle nicht grundlos. Es sind auch internationale Ermittler in Ukraine, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren und zu untersuchen.

Das kann man natürlich völlig ausblenden, gibt genügend Menschen im Westen, die das tun. Genauso blenden sie aus, dass russische Menschenrechtler:innen, Journalist:innen, Künstler:innen, Umweltaktivist:innen, Anwälte, Oppositionelle wie Ilya Yashin oder Vladimir Kara-Murza, aber auch Student:innen und Rentner:innen zu hohen Haftstrafen in Staflagern verurteilt werden, oft auch unter "strengen Bedingungen", d.h. mit Zwangsarbeit. Es genügt, ein paar kritische Posts in den Sozialen Medien zu teilen oder ein Antikriegsgedicht vorzutragen. Die St. Petersburger Künstlerin Sasha Skochilenko ist doch eine Kollegin von Ihnen, finden Sie etwa, sie hat die sieben Jahre Lagerhaft verdient?

Das sind keine Einzelfälle. Lesen Sie bitte mal ОВД-Инфо, dabei kann man auch gut Russisch üben und bekommt gleich einen Einblick in diesen Staat. Und schauen Sie sich bitte auch die Dokumentation Memento an, Sie bekommen einen direkten Einblick in die russische Gesellschaft - alle Aufnahmen haben Kinder und Jugendliche in der Russischen Föderation selbst gefilmt.

Die Strafpsychiatrie ist auch längst zurück. Ein junger Russe, in den ich damals verliebt war, landete 1984 für zwei Jahre dort - ich habe mit eigenen Augen gesehen, was das mit Menschen macht.

Ich hatte übrigens seinerzeit freiwillig in der Oberstufe drei Jahre Russischunterricht belegt (den gab es auch an westdeutschen Schulen). Wie gesagt, ich habe russische Freunde - die meisten haben bereits vor 2022 das Land verlassen. Der, der noch in Moskau ist, spricht keine Fremdsprachen und hat vor allem auch eine betagte Mutter, die er pflegt.

Liebe arboretum, es ist mir nicht klar, was Sie mit Ihrem ausführlichen, in Teilen sich wiederholenden Kommentar aussagen möchten, dessen eindringliche Note seltam anzurühren vermag.

Als exklusiven Service kann ich Ihnen heute einige hashtags anbieten:

#anteilnahme
#liebezwischenostundwest
#völkerverständigung ну да
#besorgnis
#künstlerlebengefährlich
#heldenbleibenzuhause
#warnung
#belehrung
#besserwisserei
#übergriff
#aufarbeitungdergeschichte
#propaganda
#verwirrung
#usw.

ich habe das gerade mal versucht. bei facebook bekommt man bei dem hashtag #besserwisserei drei unterschiedliche videoclips angeboten, bei dem hashtag #übergriff viele videos zum genau der thematik, die mir dazu spontan als erstes eingefallen ist, hier aber nicht passt. bei google wird es nicht besser. mit #heldenbleibenzuhause findet sich rein gar nichts, mit mühe dann ein vier jahre alter bezug zu ausgefallenen veranstaltungen in der coronazeit. mehr habe ich nicht ausprobiert.

#achso

Das kann auch nicht klappen, denn in meinem Text ging es um was ganz anderes.

#kunst
#zeichnen
#zeichentechnik
#buntstifte
#u.ä.

Ja, das kann es dann vermutlich nicht.
Dachte ich doch bis eben noch, es ginge um
#auslandsaufenthalte