Topic: Familienbande
Ich vertreibe mir die Zeit mit der Herstellung diverser Sirup-Sorten, heute gibt es welchen von der Holunderbeere. Außerdem vertreibe ich mir die Zeit mit Ahnenrecherche. Eine Frau mit meinem Nachnamen hatte ich schon 2010 über fb angeschrieben und jetzt meldet sie sich, ob es for real wäre. Wir beide sind gleich erfreut, als wir Dank alter Unterlagen (u. a. in den Papieren meines Vaters) herausfinden, dass wir die gleichen Urgroßeltern haben. Ihr Opa ist 1938 nach Venezuela ausgewandert und seine Nachfahren bestehen aus vier Kindern mit ein paar wenigen Enkeln. Jene Kusine wohnt heute in Equador. Mein Vater hatte es uns vor Jahren schon erzählen wollen – seine Vorfahren besaßen einen Hof in Westfalen, der bereits im Jahr 1147 beschrieben wurde und über 800 Jahre im Besitz der Familie Sch. gewesen war, bis er in den Kriegsjahren mangels rechter Bewirtschaftung verkauft werden musste. In späteren Jahrzehnten wurde dort Geflügelwurst hergestellt und nun befindet sich am selben Ort ein Gestüt.
Die Stengel der Holunderbeeren sehen aus wie rote Adern, die jemand aus Körpern herausgezogen und zum Trocknen aufgehängt hat. Oder wie Zweige von Stammbäumen. Der Chronist der Sch.’schen Ahnen hatte mit bestem Wissen und Gewissen noch 1940 von Blut und Boden geschrieben, dem er sich eher zugehörig fühlt als seine Vettern, die als Stadtmenschen kaum mehr an der Scholle hingen. Ein anderer entfernter Vetter, heute 70-jährig, hat den Stammbaum in den letzten zehn Jahren weitergeführt, digital erfasst und auf seiner Website zugänglich gemacht. 22.858 Personen in 8.625 Familien. Natürlich ist mein Familienname dabei und ich bitte Herrn Sch. per Mail, noch ein paar Daten meiner Familie hinzuzufügen. Auch von meiner Mutter finde ich Abschriften von Heiratsurkunden ihrer Vorfahren, die als Abstammungsnachweis in den 40ern angefertigt wurden, und nun kenne ich auch die Namen der Ur- und Urgroßeltern der mütterlichen Linie.
Ahnenverehrung gibt es auf der Welt anscheinend bei allen Völkern, nur nicht bei uns. Wen sollte man auch verehren können, über den nicht geredet wurde oder der selbst nichts mehr erzählt hat, weil er unter schauerlichen Kriegserlebnissen verstummt war oder anderes zu verbergen hatte, vielleicht als Täter oder Mitwisser. Dass mein Opa in der Partei war, sieht man auf Fotos am stolz präsentierten Abzeichen am Revers. Und Mama konnte sich an Onkel H. (den Venezulaner, es war der Onkel meines Vaters, sie ist ihm nie begegnet) nur in sofern erinnern, dass nicht über ihn gesprochen wurde. Was es bedeutet, wenn sich 1938 jemand vom Acker macht, könnte man sich denken. Ich hoffe, dass meine Kusine mir mehr dazu erzählen wird. Die Großelterngeneration bestand aus neun Geschwistern, drei Männer und sechs Frauen, einige ledig, andere verheiratet und deshalb fremden Namens. Auch ihre Gesichter erkenne ich nun auf den vergilbten Fotos wieder.
Jede/r meiner Ahnen hatte ein Leben, sei es glücklich gelebt oder vertan. Mein eigenes verliert durch meine Nachforschungen und Erkenntnisse an Wichtigkeit, trotzdem aber stellt es mich vor alle anderen 22.858, weil ich derzeit am Leben bin. Ich werde das Beste draus machen.
Nachtrag: Seltsamerweise existieren von meiner Großmutter väterlicherseits kaum Familiendaten. Ich habe sie natürlich noch kennengelernt, immerhin wohnten wir über 20 Jahre mit ihr nicht besonders glücklich zusammen im Eineinhalbfamilienhaus. Ich mochte sie nicht besonders, und ich habe sie kaum je etwas Persönliches gefragt. Sie war die zweite Frau meines Großvaters, und zuerst als Kinderfrau für seine vier halbwaisen Kinder eingestellt. Praktischerweise heirateten sie später und zeugten meinen Vater. Gestern fiel mir ein kleines Gebetbuch in die Hand, ein Andenken an Omas erste hl. Kommunion, ihr Name ist eingedruckt. Im Büchlein liegen zwei Sterbekarten. Solche Karten wurden wohl anlässlich der Beerdigung unter den Trauernden verteilt. Es gibt vorn ein Heiligenbild und auf der Rückseite einen Sinnspruch, gefolgt vom Namen der/s Verstorbenen und die Geburts- und Sterbedaten. Auf jeden Fall hatten beide Personen einen christlich-frommen Lebenswandel geführt und waren durch die hl. Sterbesakramente wohl gestärkt. Es handelt sich bei den Toten um ihren Vater und ihre Großmutter, nach deren Namen ich vergeblich gesucht hatte. Ich weiß, dass meine Oma bei ihren Großeltern aufwuchs, die näheren Gründe kenne ich auch hier nicht. Vielleicht war die Mutter früh gestorben und der Vater hatte sie zu den Großeltern gegeben. Mir scheint, die Familie ist durchzogen von früh gestorbenen Erstfrauen mit gemeinsamen Kindern, von Zweitehen mit weiteren Kindern. Auch der venezuelanische Onkel H. wies diese Konstellation auf.
Die Stengel der Holunderbeeren sehen aus wie rote Adern, die jemand aus Körpern herausgezogen und zum Trocknen aufgehängt hat. Oder wie Zweige von Stammbäumen. Der Chronist der Sch.’schen Ahnen hatte mit bestem Wissen und Gewissen noch 1940 von Blut und Boden geschrieben, dem er sich eher zugehörig fühlt als seine Vettern, die als Stadtmenschen kaum mehr an der Scholle hingen. Ein anderer entfernter Vetter, heute 70-jährig, hat den Stammbaum in den letzten zehn Jahren weitergeführt, digital erfasst und auf seiner Website zugänglich gemacht. 22.858 Personen in 8.625 Familien. Natürlich ist mein Familienname dabei und ich bitte Herrn Sch. per Mail, noch ein paar Daten meiner Familie hinzuzufügen. Auch von meiner Mutter finde ich Abschriften von Heiratsurkunden ihrer Vorfahren, die als Abstammungsnachweis in den 40ern angefertigt wurden, und nun kenne ich auch die Namen der Ur- und Urgroßeltern der mütterlichen Linie.
Ahnenverehrung gibt es auf der Welt anscheinend bei allen Völkern, nur nicht bei uns. Wen sollte man auch verehren können, über den nicht geredet wurde oder der selbst nichts mehr erzählt hat, weil er unter schauerlichen Kriegserlebnissen verstummt war oder anderes zu verbergen hatte, vielleicht als Täter oder Mitwisser. Dass mein Opa in der Partei war, sieht man auf Fotos am stolz präsentierten Abzeichen am Revers. Und Mama konnte sich an Onkel H. (den Venezulaner, es war der Onkel meines Vaters, sie ist ihm nie begegnet) nur in sofern erinnern, dass nicht über ihn gesprochen wurde. Was es bedeutet, wenn sich 1938 jemand vom Acker macht, könnte man sich denken. Ich hoffe, dass meine Kusine mir mehr dazu erzählen wird. Die Großelterngeneration bestand aus neun Geschwistern, drei Männer und sechs Frauen, einige ledig, andere verheiratet und deshalb fremden Namens. Auch ihre Gesichter erkenne ich nun auf den vergilbten Fotos wieder.
Jede/r meiner Ahnen hatte ein Leben, sei es glücklich gelebt oder vertan. Mein eigenes verliert durch meine Nachforschungen und Erkenntnisse an Wichtigkeit, trotzdem aber stellt es mich vor alle anderen 22.858, weil ich derzeit am Leben bin. Ich werde das Beste draus machen.
Nachtrag: Seltsamerweise existieren von meiner Großmutter väterlicherseits kaum Familiendaten. Ich habe sie natürlich noch kennengelernt, immerhin wohnten wir über 20 Jahre mit ihr nicht besonders glücklich zusammen im Eineinhalbfamilienhaus. Ich mochte sie nicht besonders, und ich habe sie kaum je etwas Persönliches gefragt. Sie war die zweite Frau meines Großvaters, und zuerst als Kinderfrau für seine vier halbwaisen Kinder eingestellt. Praktischerweise heirateten sie später und zeugten meinen Vater. Gestern fiel mir ein kleines Gebetbuch in die Hand, ein Andenken an Omas erste hl. Kommunion, ihr Name ist eingedruckt. Im Büchlein liegen zwei Sterbekarten. Solche Karten wurden wohl anlässlich der Beerdigung unter den Trauernden verteilt. Es gibt vorn ein Heiligenbild und auf der Rückseite einen Sinnspruch, gefolgt vom Namen der/s Verstorbenen und die Geburts- und Sterbedaten. Auf jeden Fall hatten beide Personen einen christlich-frommen Lebenswandel geführt und waren durch die hl. Sterbesakramente wohl gestärkt. Es handelt sich bei den Toten um ihren Vater und ihre Großmutter, nach deren Namen ich vergeblich gesucht hatte. Ich weiß, dass meine Oma bei ihren Großeltern aufwuchs, die näheren Gründe kenne ich auch hier nicht. Vielleicht war die Mutter früh gestorben und der Vater hatte sie zu den Großeltern gegeben. Mir scheint, die Familie ist durchzogen von früh gestorbenen Erstfrauen mit gemeinsamen Kindern, von Zweitehen mit weiteren Kindern. Auch der venezuelanische Onkel H. wies diese Konstellation auf.
schneck,
Sonntag, 17. September 2017, 04:20
So spannend und interessant immer, dieses Graben! Und aber je mehr man in das alles, diese mannigfachen Vergangenheiten, sich hineinwurschtelt, desto unbegreiflicher in seiner zunehmenden Riesigkeit wird es, dies Vorhaben. Für jedes "aha...!" des Suchenden wirft einem jemand (der Gott, die Göttin der Vergangenheit?) ein "Ach, auch egal, Du kleines derzeitiges Würstchen..." beinahe lachend hinterher. So geht es mir jedenfalls, so empfinde ich solcherlei mittlerweile. Und trotzdem steige auch ich immer wieder auf diese Dachböden hinauf, oder in diverse Keller hinab. Niemand kann einem das abnehmen. Auch keine Schriftstücke derer, die das vor einem schon unternahmen.
akrabke,
Donnerstag, 21. September 2017, 11:19
Eine weitere Kusine ist kontaktiert und beschreibt mir unsere Urgroßmutter als weltoffene, Socken strickende liebevolle Frau, die sich gern auf den Dachboden zurückzog und Bücher las. Das Haus war stets für alle offen, Kinder und Enkel, und es gab Welfenspeise. Von all dem war mein Leben abgeschnitten, während meine Eltern sich zankend und zeternd im Haus versteckten und jeden ausschlossen. Was war bloß los?
Meine Urahnin gibt mir im Moment Trost, viel größer als ein Würstchen, so groß wie ein See von Welfenspeise.
Meine Urahnin gibt mir im Moment Trost, viel größer als ein Würstchen, so groß wie ein See von Welfenspeise.