Als ich in ihr Zimmer komme, sitzt die Mutter still und traurig vor sich hin, ich setze mich nah dazu. Sie beginnt zu weinen, als sie mir erzählt, dass beim Frühstück ein sehr berührender Text über das Muttersein vorgelesen wurde. Von wem? Sie kann sich nicht erinnern, aber, und außerdem, sie sei ja gar kein Mütterlein. Na, du bist doch meine Mutter, rufe ich, und versichere ihr, dass das Schöne des Textes auch für sie gelte. Aus ihren hellen Augen quellen weiterhin dicke Tränen, die vor dem Fallen das Augenlid wie einen winzigen Brunnen oder ein kleines Becken nach vorn ausdehnen. Ich küsse sie, und versuche sie zu trösten.

Ich hätte ihr doch gesagt, wir seien Schwestern – sie klingt ein bisschen verzweifelt. Und dann erkläre ich ihr wieder einmal ausgiebig die Familienverhältnisse; ein großes Durcheinander, bestätige ich, und irgendwie auch egal, Schwester oder Mutter. Sie lacht. Wir laufen den schönen Weg durchs kleine Deichtor, einmal um die große Wiese, sitzen am See. Du muss mir das alles nochmal erklären, sagt sie. Wie Mama gestorben war. Ich erkläre gern und mit großer Geduld. Ja, tatsächlich, Geduld habe ich gelernt in dieser Zeit, nicht dass dies alles hier ganz umsonst ist.

Schon letzten Freitag beim Warten aufs Zahnziehen im Krankenhaus sollte ich ihr nochmal erzählen, wie Papa gestorben sei. Wieder diese großen klaren Tränen, die erst einen See bilden. Später dann rollt die Assistentin sie zu mir zurück ins Wartezimmer, Mama den Mund weit auf, die Winkel blutig, lacht sie, weint sie? Ich kann es nicht genau erkennen, denn ohne Prothese hat sie nur noch die zwei vorderen Schneidezähne und sieht aus wie eine irgendwie sehr liebe Hexe, falls es das gibt. Später fragt sie, wie ich es fand, dass sie so strahlend aus der OP kam (also sollte das ein Lächeln sein, gut). Ich finde das so niedlich, sie hat sich viel mehr Sorgen um mich gemacht, die lange Wartezeit, das wollte sie doch nicht.

Also einen Zahn weniger. Auch das irgendwie geschafft.





Sehr berührend. Hier ähnlich.

Ja. Das bleibt.