Topic: Nah
Nicht mal mein login weiß ich noch auswendig. So schwindet alles. Auch die Mutter. Was denn mit Papa sei, ob der mal vorbei käme? Der ist doch schon gestorben, sage ich letzte Woche freundlich. Und heute fragt sie nach Annemarie, meinst du deine Schwester, Mama, die ist lange tot, und deine anderen Geschwister auch. Aus einem verzweifelt verzerrten Mund ruft sie: das kann doch nicht sein! Ein bisschen weint sie. Ich versuche, ihr alles zu erklären. Ein update sozusagen. So als machte sie ab und zu ein paar Stippvisiten aus der Zeitlosigkeit in unser Kontinuum, in dem plötzlich nichts mehr stimmt. Dann, mit etwas schärferer Stimme: Was ist hier eigentlich los? Kannst du mir das mal erklären? Einen Moment falle ich drauf rein, und befürchte, dass sie wütend wird. Also noch mehr Geschichten aus dem damaligen Leben, denn sie befindet sich ich weiß nicht wo. Der hat doch ein kleines Haus gebaut. Ja, da habt ihr zusammen gelebt, da bin ich aufgewachsen. Ob sie schon einen frischen Körper in einem anderen Leben hat und hier noch ist, damit ich an ihrem Bett sitzen kann, oder mit ihr liegen kann und ihr Gesicht streicheln, ihre Hände massieren, ihr tausend mal sagen, wie süß sie ist, sie ist die allersüßeste Mama, die es verdammt nochmal überhaupt gibt.
Ich hätte gedacht, ein Sterben mitanzusehen, wäre schlimmer. Dass ich immer weinen müsste, so wie jetzt, weil ich schreibe. Wenn ich aber bei ihr bin, seit dem Schlaganfall jeden Tag, bin ich ganz ruhig und eine nicht geahnte Freude ist in mir und Kraft. Möglicherweise bin ich die einzige, die sie nicht festhält und am Wunder ihres Vergessens teilhaben darf. Sie blendet sich aus ihrem Leben aus, wie sie's sich gewünscht hat und ich darf dabei sein und alles wahr finden, was ich gelernt habe. So klein und unwissend kommt man ins Leben und muss alles Lernen, auch sie hat das, und nun sagt sie mir Sachen, ich wäre die Zärtlichste von allen. Ich weine ein bisschen und wische über die Tränen mit dem rauhen Wollpulli. Ihr Zeigefinger streicht um meine Augen herum. Als ich erzähle, was für dunkle Augenringe meine Nachbarin hat, so huuh, lachen wir beide. Ich kenne dich schon mein ganzes Leben, sag ich, und wir sind uns immer so nah gewesen, ein nahes Leben, sie schaut mit ihren großen graugrünen Augen direkt in mich rein, lange, und wie immer denke ich, jetzt ein letzter Atemzug, aber bisher hat sie immer weiter geatmet. (Und ich weiß nicht, ob ich bei jenem dabei sein möchte. Und immer noch kann ich mir nicht vorstellen, dass sie eines Tages wirklich aufhört.) Und noch eine Woche und noch ein Monat, was für ein Jahr das war! Was für ein Leben mit ihr! Was für ein langer Abschied. Aber auch ich vergesse – was war, wie schwierig beide Eltern, wie unglücklich ich mit ihnen – und habe nur noch Liebes für sie übrig.
Ich hätte gedacht, ein Sterben mitanzusehen, wäre schlimmer. Dass ich immer weinen müsste, so wie jetzt, weil ich schreibe. Wenn ich aber bei ihr bin, seit dem Schlaganfall jeden Tag, bin ich ganz ruhig und eine nicht geahnte Freude ist in mir und Kraft. Möglicherweise bin ich die einzige, die sie nicht festhält und am Wunder ihres Vergessens teilhaben darf. Sie blendet sich aus ihrem Leben aus, wie sie's sich gewünscht hat und ich darf dabei sein und alles wahr finden, was ich gelernt habe. So klein und unwissend kommt man ins Leben und muss alles Lernen, auch sie hat das, und nun sagt sie mir Sachen, ich wäre die Zärtlichste von allen. Ich weine ein bisschen und wische über die Tränen mit dem rauhen Wollpulli. Ihr Zeigefinger streicht um meine Augen herum. Als ich erzähle, was für dunkle Augenringe meine Nachbarin hat, so huuh, lachen wir beide. Ich kenne dich schon mein ganzes Leben, sag ich, und wir sind uns immer so nah gewesen, ein nahes Leben, sie schaut mit ihren großen graugrünen Augen direkt in mich rein, lange, und wie immer denke ich, jetzt ein letzter Atemzug, aber bisher hat sie immer weiter geatmet. (Und ich weiß nicht, ob ich bei jenem dabei sein möchte. Und immer noch kann ich mir nicht vorstellen, dass sie eines Tages wirklich aufhört.) Und noch eine Woche und noch ein Monat, was für ein Jahr das war! Was für ein Leben mit ihr! Was für ein langer Abschied. Aber auch ich vergesse – was war, wie schwierig beide Eltern, wie unglücklich ich mit ihnen – und habe nur noch Liebes für sie übrig.
trippmadam,
Dienstag, 12. Januar 2016, 10:40
Wenn die alten Leute sich aufs Sterben vorbereiten (und ich glaube, das tun sie tatsächlich, mehr oder weniger bewusst),dann muss man sie nicht aufhalten wollen. Das wäre schmerzhaft für sie und uns, glaube ich. Deshalb mag ich diesen Satz im obigen Blogeintrag: "Möglicherweise bin ich die einzige, die sie nicht festhält..." (Ich hoffe, ich bin Ihnen damit nicht zu nahe getreten.)
akrabke,
Dienstag, 12. Januar 2016, 18:54
Aber nein, liebe Frau trippmadam, Sie sind mir nicht zu nahe getreten.
Manche am Lebensende sich Befindenden kippen einfach und manche brauchen etwas länger, niemand weiß warum. Ich hatte ein paar Wochen und Monate mit der Idee verbracht, ob ich ihr helfen kann, indem ich 'besser' oder auf die 'richtige' Art loslasse, aber aich dieser Gedanke ging vorbei. Jetzt bin ich einfach da, weil ich sowieso da bin. Ich möchte mir den Vorgang auch nicht mehr entgehen lassen. Vorher war da schon Abneigung.
Manche am Lebensende sich Befindenden kippen einfach und manche brauchen etwas länger, niemand weiß warum. Ich hatte ein paar Wochen und Monate mit der Idee verbracht, ob ich ihr helfen kann, indem ich 'besser' oder auf die 'richtige' Art loslasse, aber aich dieser Gedanke ging vorbei. Jetzt bin ich einfach da, weil ich sowieso da bin. Ich möchte mir den Vorgang auch nicht mehr entgehen lassen. Vorher war da schon Abneigung.
schneck,
Samstag, 30. Januar 2016, 10:11
Ja, da weint man viel und wundert sich, nach all den Jahren. Und auch hier am Waldrand kann auch ich "mir nicht vorstellen, dass sie eines Tages wirklich aufhört".
akrabke,
Mittwoch, 3. Februar 2016, 19:27
Man wundert sich vor allem, wie sehr man an einem Menschen hängt.