Freitag, 26. Juli 2024
behauptet die Nachbarin, "... alles, was man ein Jahr lang nicht benutzt hat, kann weg." Ich räume gerade in großem Stil auf, und anscheinend rede ich oft darüber, denn ich bekomme viele unterschiedliche Antworten auf gar nicht gestellte Fragen. (Daran bleibe ich gerade hängen, an den Antworten auf nicht gestellte Fragen. Wie heißen die? Ansichten? Aussagen? Be- und Anmerkungen?) Einige entschuldigen sich, dass sie nicht zum Ausmisten kommen würden, obwohl sie wollten, denn zum Beispiel die Tassensammlung sämtlicher Urlaube der 80er und 90er Jahre läge ihnen sehr am Herzen. Oder sie machen Witze über einen chaotischen Geist in einem unordentlichen Körper. Naja.

Ich sinne über künstlerische Ausdrucksformen, die keinen MottenbeAbfall verursachen oder einen möglichst geringen. Es bietet sich Zeichnen an. Dazu eine Schachtel Buntstifte, nicht zu viele, denn sie lassen sich kaum transportieren – zwölf in einer flachen Schachtel sollten reichen. Vielleicht muss man aber auch gar nicht raus zum Zeichnen. Der Blick vom Sofa durchs Fenster auf den Baumbestand im Hof im Wechsel der Jahreszeiten bietet genügend Abwechslung. Vors Fenster könnte ab und zu ein Stuhl, ein Tisch oder ein Sessel gerückt werden, auf der Fensterbank Glas und Karaffe, von Zeit zu Zeit kommt das Eichhörnchen vorbei und gräbt in den Blumenkästen nach einer Nuss. Rot- und Grüntöne herrschen vor (und ergeben Braun), ach nee, da ist ja der Himmel und die durch Lichtstimmung veränderlichen grauweißen Schattierungen der Innenwand.

Die Kuratorin/Malerin lebt in einer Riesenwohnung mit mehreren Zimmern, welche mit aneinandergelehnten großformatigen Leinwänden vollstehen. Eine DinA4-Mappe mit 70-Gramm-Papierbögen hat viel geringere Ausmaße und wäre nach einem Jahr mit einer Zeichnung pro Tag zwar gut gefüllt, könnte aber in einen Schrank gelegt werden, nachdem man etwas alte Wäsche in die Altkleidersammlung getragen hat. So müsste das gehen. Die Buntstiftschachteln werden mit losen Buntstiften neu befüllt, die Anspitz- und Radiergummireste kommen in den normalen Hausmüll.

Bei insta bin ich auf eine russische Kunstschule (простая школа – einfach Schule) aufmerksam geworden. Sie bewirbt Online- und Kurse vor Ort und veröffentlicht dazu Gespräche mit Lehrern, die ihre Arbeitsweise oder die Art des Kurses beschreiben – Malerei, Zeichnung, Collagen, Straßenskizzen. Jetzt, Anfang August, wird eine Residenzzeit geboten – dazu verbringt die Studentengruppe eine ganze Woche gemeinsam und arbeitet an der jeweiligen Aufgabe. Die Lehrer stehen zu Anleitungen und Auseinandersetzungen zur Verfügung, es wird zusammen gesund gekocht und gegessen, Yoga gemacht und überhaupt soll eine achtsame, zen-artige Stimmung entstehen und die künstlerische Selbstfindung gedeihen. Die Lehrergespräche sind auf YT zu finden und anhand der zuschaltbaren Übersetzungen lassen sie sich gut verfolgen und bieten mir Russischschülerin eine Möglichkeit, die Sprache zu vertiefen und mir ein passendes Vokabular anzueignen.

Wie gern wäre ich dort. Da ich aber aller Voraussicht erst nach drei Jahren sprechen werde (dann aber in ganzen Sätzen), ist es jetzt im zweiten Jahr für mich noch zu früh. Ich höre mir einen einminütigen Auszug eines Gespräches mit einer älteren Künstlerin an (leider ohne Untertitel) und verstehe kaum ein Wort. Es dauert ewig, das Gesagte zu übersetzen – noch vermag ich die Füllwörter nicht einzuordnen oder Phrasen wie на самом деле (tatsächlich, in der Tat) versperren mir den klaren Blick auf den Satz. Was sie dann aussagt, ist toll, dass Malen Bergmannsarbeit ist, anstrengend, erst nur eine nebulöse Idee, und nicht mal eben so wie, ach, da küsst mich grad die Muse.

Sicher ist es auch so mit einer Zeichnung. Wo fange ich an, was interessiert mich überhaupt? Die zehn rotbraunen Früchte meiner Fensterbanktomatenpflanze? Zeichne ich sie realistisch oder bloß Umrisse einfangend? Eigne ich mir diesen ungeduldigen Stil an mit großflächigen Schraffuren in Grau plus Farbakzent – einer von Zwölfen, Zweie komplementär oder bunt opak? –

Sie hören von mir.