Topic: Auf Reisen
Ein seltsames Unterfangen, irgendwie soetwas wie Kontrolle zu erlangen über das, was geschieht. Regler nach oben, links die Essigchips (angeblich original englische Art) und rechts ein kleines Glas Bier -- dabei ist erst Mittag. Diesmal werde ich meine Reise zu Dudi nicht absagen oder verschieben -- dabei ist einiges im Außen/im Argen. Das Verb haben wird im Russischen als bei mir ist umschrieben und das finde ich ganz wunderbar. Weder ich bin dieser Körper, auch nicht ich habe einen Körper, sondern Körper ist bei mir.
Also, in Kriegszeiten zu reisen, kommt mir falsch vor -- dabei ist stets irgendwo Krieg; hat nicht neulich die Türkei irgendwen angegriffen, im Norden, Süden, Osten oder Westen, und niemand hat es kommentiert oder gar bemerkt?
Jetzt oder nie, sagt die Schlagzeugerin, als wir an der Kirmes vorbeifahren und ich mich beklage, dass niemand mit mir Riesenrad fahren mag. Jetzt oder nie machen wir unsere Räder fest, betreten wir das Gelände und schauen wenig später zwischen Stahl-Tangenten und -radien auf unsere Stadt. In der gleichen Gondel sitzt ein Vater und sagt zu seinem Kind so etwas wie город, möglicherweise schau mal, wir können über die ganze Stadt blicken oder die Stadt von oben sehen. Was weiß ich, wie der Russe es umschreibt, wenn er sich hoch oben über der Stadt, город, befindet. Мы смотрим на город.
Сейчас или никогда. Es ist erstaunlich, was man mit einem Mikrowortschatz wie meinem schon alles heraushören oder -lesen kann.
Nun steht also die Reise ins Nachbarland an. Ich hatte mich vor Wochen schon um einen neuen Reisepass bemüht, habe aber erst Ende Juni einen Termin, zudem in einem anderen Stadtteil, weil in meinem Amt wohl nichts mehr geht. Fürs Nachbarland benötigt man natürlich keinen Reisepass, aber statt einer ID-Karte besaß ich stets (lieber) einen Reisepass. Nach meinem letzten Indienbesuch vor zehn Jahren ist dieser nun abgelaufen. Mein bereits erstelltes Foto zeigt eine Frau, also mich, mit einem geschlossenen Hemdkragen, hellerem Haar und einem sehr leisen Lächeln. Sie können ein klein wenig lächeln, sagt die Fotografin, und zeigt mir das erste Bild, auf dem ich erschreckt die Augen aufreiße, während ich sichtlich grimmig auf den Blitz warte.
Dudi und ich hatten uns das letzte Mal Ende Januar 2021 zur Beerdigung unseres Mütterleins gesehen, das ich eigentlich gar nicht mehr Mütterlein nennen möchte. Es klingt so viel Mitleid und Kleinheit mit -- dabei war sie eine erwachsene Frau, die ihr Schicksal angenommen und gelebt hat, so wie wir das alle tun (müssen). Niemand bemitleidet uns dafür. Ich möchte sie als liebevolle Mutter und, vielmehr noch, als lustige, kritische, eigensinnige, freigiebige Ahnin im Herzen wissen, die meinen größten Respekt verdient.
Das erste Mal nun werde ich unserer jüngsten Nachfahrin begegnen. Im Geheimen hatte ich stets darüber spekuliert, ob unsere Mutter in ihren Körper hinüberwechseln würde. Zeitlich (und reinkarnationstheoretisch) gesehen, wäre es nicht ganz unmöglich -- dabei ist die Mutter erst fünf Monate nach der Geburt der Großnichte ins Jenseits hinübergereist. Angeblich aber hat die frisch Inkarnierte ein Jahr Bedenkzeit, ob sie bleiben möchte, und tritt oftmals auch erst nach Monaten vollständig in den neuen Körper ein. Auf mir zugesendeten Bildern und Filmchen erkenne ich die Augenform und -farbe unseres Ur-Ur-Großvaters, mandelförmig, an den Außenseiten spitz nach unten zulaufend, die Iris grau, im Gegensatz zum Grün und Braun unserer Eltern. Und sicherlich sieht man auch die Anteile der holländischen Vorfahren.
Der Neffe und ich haben einen halbgeheimen Pakt über den Erwerb von Bitcoin, der gestern auf einem Tiefpunkt war. JETZT kaufen, weise ich den jungen Mann an, denn ich kann selbst nicht kaufen, weil ich mich selbst nicht registrieren kann, weil blabla mein Pass nicht mehr aktuell ist usw., aber das ehemalige Kind kann es. Dudi weiß darüber nicht alles -- dabei hat sie ihm neulich beim Kauf eines, wie ich finde, sehr hässlichen Krypto-Dings-JPG unterstützt. Angeblich ist es besonders wertvoll, weil es das zehntausendste ist. Achso.
Und so schleudern wir schön mit dem Geld rum, geben es für Benzin, Krypto-Kunst und Bio-Essen aus und sind guter Dinge. Wer weiß, wie's weitergeht, wenn alles egal ist bzw. wird bzw. war.
Also, in Kriegszeiten zu reisen, kommt mir falsch vor -- dabei ist stets irgendwo Krieg; hat nicht neulich die Türkei irgendwen angegriffen, im Norden, Süden, Osten oder Westen, und niemand hat es kommentiert oder gar bemerkt?
Jetzt oder nie, sagt die Schlagzeugerin, als wir an der Kirmes vorbeifahren und ich mich beklage, dass niemand mit mir Riesenrad fahren mag. Jetzt oder nie machen wir unsere Räder fest, betreten wir das Gelände und schauen wenig später zwischen Stahl-Tangenten und -radien auf unsere Stadt. In der gleichen Gondel sitzt ein Vater und sagt zu seinem Kind so etwas wie город, möglicherweise schau mal, wir können über die ganze Stadt blicken oder die Stadt von oben sehen. Was weiß ich, wie der Russe es umschreibt, wenn er sich hoch oben über der Stadt, город, befindet. Мы смотрим на город.
Сейчас или никогда. Es ist erstaunlich, was man mit einem Mikrowortschatz wie meinem schon alles heraushören oder -lesen kann.
Nun steht also die Reise ins Nachbarland an. Ich hatte mich vor Wochen schon um einen neuen Reisepass bemüht, habe aber erst Ende Juni einen Termin, zudem in einem anderen Stadtteil, weil in meinem Amt wohl nichts mehr geht. Fürs Nachbarland benötigt man natürlich keinen Reisepass, aber statt einer ID-Karte besaß ich stets (lieber) einen Reisepass. Nach meinem letzten Indienbesuch vor zehn Jahren ist dieser nun abgelaufen. Mein bereits erstelltes Foto zeigt eine Frau, also mich, mit einem geschlossenen Hemdkragen, hellerem Haar und einem sehr leisen Lächeln. Sie können ein klein wenig lächeln, sagt die Fotografin, und zeigt mir das erste Bild, auf dem ich erschreckt die Augen aufreiße, während ich sichtlich grimmig auf den Blitz warte.
Dudi und ich hatten uns das letzte Mal Ende Januar 2021 zur Beerdigung unseres Mütterleins gesehen, das ich eigentlich gar nicht mehr Mütterlein nennen möchte. Es klingt so viel Mitleid und Kleinheit mit -- dabei war sie eine erwachsene Frau, die ihr Schicksal angenommen und gelebt hat, so wie wir das alle tun (müssen). Niemand bemitleidet uns dafür. Ich möchte sie als liebevolle Mutter und, vielmehr noch, als lustige, kritische, eigensinnige, freigiebige Ahnin im Herzen wissen, die meinen größten Respekt verdient.
Das erste Mal nun werde ich unserer jüngsten Nachfahrin begegnen. Im Geheimen hatte ich stets darüber spekuliert, ob unsere Mutter in ihren Körper hinüberwechseln würde. Zeitlich (und reinkarnationstheoretisch) gesehen, wäre es nicht ganz unmöglich -- dabei ist die Mutter erst fünf Monate nach der Geburt der Großnichte ins Jenseits hinübergereist. Angeblich aber hat die frisch Inkarnierte ein Jahr Bedenkzeit, ob sie bleiben möchte, und tritt oftmals auch erst nach Monaten vollständig in den neuen Körper ein. Auf mir zugesendeten Bildern und Filmchen erkenne ich die Augenform und -farbe unseres Ur-Ur-Großvaters, mandelförmig, an den Außenseiten spitz nach unten zulaufend, die Iris grau, im Gegensatz zum Grün und Braun unserer Eltern. Und sicherlich sieht man auch die Anteile der holländischen Vorfahren.
Der Neffe und ich haben einen halbgeheimen Pakt über den Erwerb von Bitcoin, der gestern auf einem Tiefpunkt war. JETZT kaufen, weise ich den jungen Mann an, denn ich kann selbst nicht kaufen, weil ich mich selbst nicht registrieren kann, weil blabla mein Pass nicht mehr aktuell ist usw., aber das ehemalige Kind kann es. Dudi weiß darüber nicht alles -- dabei hat sie ihm neulich beim Kauf eines, wie ich finde, sehr hässlichen Krypto-Dings-JPG unterstützt. Angeblich ist es besonders wertvoll, weil es das zehntausendste ist. Achso.
Und so schleudern wir schön mit dem Geld rum, geben es für Benzin, Krypto-Kunst und Bio-Essen aus und sind guter Dinge. Wer weiß, wie's weitergeht, wenn alles egal ist bzw. wird bzw. war.
akrabke | 13. Mai 2022, 16:36 | 0 Kommentare
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