Dienstag, 2. Mai 2017
Ich dachte vorhin erst, da kommt ein Kerl, ruft der Nackte mir zu, als ich mich schon wieder ankleide. Mein erstes Sonnenbad am See, vor dem Wind versteckt im Gras. Was, ich? ruf ich zurück. Ja, so mit dem Rad und der Jacke und den kurzen Haaren. Und dann kommt da plötzlich ein wunderschönes Mädchen zum Vorschein! Ich lache über wunderschön und Mädchen. Auf jeden Fall bin ich die jüngste von den fünf oder sechs FKKlern, die sich eingefunden haben. Ich erzähle dem Bildhauer von dem Geschmeichel, das fände er ja auch immer, sagt er, weiterschmeichelnd.

Diese (anderen) Erlebnisse sind leicht. An einem Tag sind wir plötzlich zu siebt und fahren zum Bärlauchwald, um zu spazieren und ernten und dann in meiner kleinen Küche zu landen, schnell einen Topf Nudeln aufsetzen, die Gäste mit flinker Hand bedienen. Rotwein ist noch da und Kaffee, alle kennen sich und plaudern aufs erfreulichste. Oder, mein großer Patensohn hat einigen Aufenthalt am hiesigen Bahnhof, ich fahre schnell hin und lade ihn zu einer Asianudel ein, dazu gibt’s buddhistische Weisheiten – von ihm an mich. Dass er das Spirituelle so ernst nimmt; was für ein erstaunlich schöner Mann er geworden ist!

Und die Ausflüge mit dem Bildhauer. Wir lassen uns zu Plätzen treiben, die wir im Laufe der zweidreiviertel Jahre gefunden haben, zu jeder Zeit erscheinen sie uns freundlicher und bedeutender. Sogar dieser seltsame Ort Grohnde: Vom Fährhaus zu sehen, ragen die Kühltürme des AKW aus den Fluss-Auen. Wir beoachten Ruderer und Menschen in Schnellboten, hinter uns tönt eine Blaskapelle, und die Weser, trüb und still, macht mir Heimatgefühle.




Jede Unternehmung, die die Mutter betrifft, erscheint mir als eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Zum morgen anstehenden Zahnarzttermin muss allerlei Papierkram erledigt werden, Transportscheine, aktuelle Versichertenkarte, Überweisungen, Zahlungen – der Arzt sagt, zum Zahnziehen schicken wir solch betagte Menschen (lieber) ins Krankenhaus. Dazu rattern weitere Überlegungen: Soll ich Windeleinladen mitnehmen, und gleich noch eine Garnitur Wäsche, falls diesem betagten Mütterlein (dement, inkontinent, im Rollstuhl sitzend) ein Malheur passiert? Ich habe im Heim nicht gefragt, wer sich um all dies kümmern würde, wenn es mich nicht gäbe. Weil es mich ja gibt. Und so erledige ich all dies.

Die Weigerung, die Situation als gegeben hinzunehmen, kostet mich mehr Kraft, als die Dinge entschlossen anzugehen. Die Weigerung ist immer noch die: Ich möchte Mama so in ihrer Hilflosigkeit nicht erleben. Ich wünschte, alles wäre anders. Entweder Mama kregel und halbwegs gesund oder gar nicht mehr da. Ich wünschte, ich wäre frei. Und alles Denken dreht sich herum und herum, jeder Gedanke schon hunderte Male gedacht, jedes Bedauern tausendfach erörtert. Die Welt sei gefällligst so, wie ich (oder Mama, oder Dudi) es will! Und dies ist letzlich die größte spirituelle Herausforderung: Die Geschehnisse so anzunehmen, gar zu lieben, wie sie sind.

Am Ende wird sich jede Bemühung herausstellen als – was? Sinnlos? Darf man sowas überhaupt andeuten? Nochmal eine Serie von physiotherapeutischen Behandlungen – für was? Um der Mutter endgültig klarzumachen, dass sie nicht mehr alleine leben kann? Vielleicht ist es richtiger, sie in der Hoffnung zu lassen, da ginge noch was. Sie übt ja nicht mal für sich, sie vergisst es, natürlich, sie möchte, dass jemand kommt und sie gefälligst wieder auf die Füße stellt. Die Hausärztin weist sie sanft aber wahrheitsgemäß auf die muskelreduzierten Beinchen hin. Hinterher fragt mich Mama, wie ich die Ärztin fand. Sie glaubt ihr nicht und hält sie womöglich für inkompetent.

Gefälligst. Da sind wir beide uns gleich. Wir wollen gefälligst – was ganz anderes. Aber zacki.