Mittwoch, 1. März 2017
Sie denke darüber nach, wieder nach M. zu ziehen, sagt die Mutter. Und wie immer staune ich, wie wenig sie ihre körperliche (und geistige) Situation begreift. Sie ist schwerst pflegebedürftig, sitzt im Rollstuhl, kann nicht mal allein aus dem Bett steigen oder aufs Klo gehen, ist orientierungslos, was körperliche Bedürfnisse oder Tageszeiten betrifft, ganz zu schweigen von den Finanzen, danach fragt sie manchmal und erwidert anschließend gut, dass es mir mal jemand erklärt hat. Und wie immer argumentieren Dudi und ich fröhlich drauf los, was gegen einen Umzug spräche, als gäb’s Preise dabei zu gewinnen. Fröhlich. Natürlich nicht. Es spricht alles dagegen, aber ihre Gründe sind natürlich verständlich, wer möchte schon mit einem Haufen fremder alter Leute zusammen wohnen, und so geraten wir, wie immer, in das Dilemma, ihr vollkommen irrationales Weltbild bedienen zu müssen, denn wir müssen doch reden, oder? Es laugt uns aus.

Das ist sicher nicht so gedacht. Mittlerweile habe ich Unmengen über Demenz gelesen, gehört und angesehen. Wenn ich Mama beobachte, kann ich mitempfinden, wie sie sich fühlt und auf welche Weise hakelige Gedanken durch ein löcheriges Hirn kriechen, uneinholbar, wenn sie davoneilen und verwirrend, wenn das Ende eines Satzes nichts mehr mit seinem Anfang zu tun hat. Sie hat auch, eher selten, aggressive Phasen, beschimpft dann, beleidigt und schlägt Pflegerinnen, zweimal hatte man mich gebeten zu kommen, um sie zu beruhigen, mittlerweile habe ich Angst vorm Telefonläuten, und wie immer, wenn jemand vom Stift anruft, wird keine Sorge, es ist nichts Schlimmes vorausgeschickt. Aber ich finde es schlimm, die Mutter völlig aufgelöst vorzufinden und mir ihre bösen Tiraden gegen alles und jeden anzuhören. Die eindringlichen Gespräche, die ich dann mit ihr führe, kommen mir so vergeblich vor bei diesem rückwärts gerichteten Gang, wieder Kind zu werden, um endlich im völligen Vergessen zu enden. Aber so weit ist es noch nicht. Sie beklagt sich bei Dudi, ich hätte ihr gesagt, sie solle endlich sterben.

Das ist es wohl, was ich denke, aber natürlich habe ich es anders formuliert, dass sie nicht wegen uns diesen ganzen traurigen Weg gehen muss, sondern sich jederzeit verabschieden darf, wenn sie nicht mehr kann.

Ich schaffe es (noch) nicht, die Dinge irgendwie positiv zu sehen. Dabei gibt es Besuche, die sehr lustig sind, wir können über die unsinnigsten Sachen lachen, und gerne nehme ich von ihr Behauptetes und verdrehe es in absurde Richtungen, der Sinn für diese Art von Humor ist ihr noch nicht abhanden gekommen und ihr in tausend Lachfalten geworfenes Gesicht finde ich überaus entzückend. Da ist dann diese große Nähe, vielbeschworen bei allen Angehörigen dementer Leute, eine seltsame Art später Freude, für mich ist sie zu spät, ich will sie jetzt nicht mehr, wo sie nicht mehr echt und klar ist, von einem vernebelten Hirn produziert, überdies erinnernd die klebrige Nähe und Bedürftigkeit früherer Zeiten. Es ist alles zu spät und vergeblich.

Vergeblich auch mein Versuch, aus dem Leben der Mutter zu lesen, es zu begreifen als ein Vorspiel für das eigene Leben. Ihre Kindheit und halbe Jugend im Krieg, die Angst verlassen oder in Kellern verschüttet zu werden oder zu sterben. Die Angst, die Eltern zu verlieren als ständiger Quell dieser lähmenden Bedürftigkeit, die dazu geführt hat, die eigenen Wünsche und Lebenspläne aufzugeben (oder gar nicht erst zu entwickeln) und sich denen des Ehemannes und der Schwiegermutter anzupassen. Deshalb auch die immense Wut auf meinen Vater, der wiederum versucht hat, aus der selbstgeschaffenen Enge zu entfliehen, erst in Urlauben, die allein verbracht wurden, dann zehn Jahre Trennung und zuletzt im Sterben, und immer blieb eine völlig hilflose und zunehmend verwirrte Mutter zurück, die nun in der Demenz alles vergessen kann – darf – will.

Das ist, kurz gesagt, das was ich davon halte. Ihre Demenz ist eine Folge ihres Lebens. Es hat sie möglicherweise nur wenig interessiert. Nur wir Töchter sind ihr ein und alles und sie versteht gar nicht, wie belastend das ist. Hat es nie verstanden, für sie ist es wahrscheinlich ein Kompliment an uns. Ist es aber gleichzusetzen mit Liebe? Dudi fragt sich oft, was sie für diese Frau empfindet – sie nennt es Mitleid. Im besten Fall. Ich hingegen versuche, Mitgefühl und Geduld zu üben, so als wäre meine Mutter ein Studienobjekt meines spirituellen Handels. Meine ich dann wirklich sie?

Man sagt, alles in der Welt sei miteinander verbunden. Und trotzdem wird es als wichtig erachtet sich abgrenzen zu können, um die eigene Kaft zu erhalten. Eine perfekte Zwickmühle für mich Grüblerin. So eine Art koan. Manchmal bin ich nah dran, manchmal verzweifele ich. Was vielleicht auf das Gleiche drauf raus kommt am Ende.