Mittwoch, 28. Januar 2015
M. ruft seinem Bruder zu: "J., du musst noch schucken!" Mach ich ja, beruhigt dieser den Älteren und ich lache. Wie lange hab ich dieses Wort nicht mehr gehört! Schucken heißt zahlen und gehört zum Vokabular der Arbeiter, Sinti und anderer Bürger meiner Heimatstadt, Papa kannte und nutzte viele Wörter, wie ich mich jetzt erinnere und am Tisch taucht ein vertrautes Gefühl auf. Warum wir hier sitzen und essen, was J. später schucken wird, ist eher traurig – meine Tante ist mit über 90 Jahren gestorben. Meine Mutter ist nun die letzte Verwandte dieser Generation, alle anderen Tanten und Onkel sind lange tot. Vielleicht gibt es noch ein paar fernere, die ich nicht mehr kenne.

Mama und ich sind schon eher an der Kapelle gewesen und sehen J. und M., der von J. im Rollstuhl geschoben wird, auf uns zukommen, bei ihnen eine Frau mit ergrautem Prinz-Eisenherz-Haar. Ob J. heimlich eine Freundin hat? Wir begrüßen uns, ich umarme J., und die Frau reicht mir dann ihre Hand. Kennst du mich noch? Nee, sag ich und sie, ich bin doch deine Cousine U.! U. habe ich das letzte Mal gesehen, als ich sechs oder sieben war und sie schon über 20. Ich hatte damals nicht verstanden, wer das sein könnte und erinnere jetzt Fotos, auf denen sie zu sehen ist, mit dem gleichen Haarschnitt. Ich bin überrascht und freue mich sehr. U. ist die uneheliche Tochter von H., die von unserem Großvater A. wegen der Schande aus der Familie verstoßen wart. 1946 war das, und obwohl H. den Kindsvater nicht heiratete und auch nicht mit ihm zusammenlebte, schenkte ihr die Beinahe-Schwiegermutter ihren Familiennamen. Deshalb hieß U. mit Nachnamen immer schon anders als die anderen Kinder der großväterlichen Linie.

Ich finde das abenteuerlich und lasse mir beim Leichenschmaus mehr von ihrem Leben erzählen. Mir scheint, dass meine Tanten wahre Rebellinnen waren und die Homosexualität meines lieben Onkels H. macht die Familie noch beeindruckender. Und U. sei früh, mit 18, aus der Heimatstadt fort, weil sie es nicht mehr ausgehalten habe. Eine bunte Mischung hat mein Großvater da zusammengezeugt, vielleicht ist der alte Nazi aus Gram darüber so früh gestorben. Uns Tischgenossen eigen ist eine gewisse Familienähnlichkeit, und U. entschuldigt sich, dass sie mich so anglotzen müsse, ich sähe meinem Vater ja so ähnlich, das schmale Gesicht und wie ich so schauen würde. Auch die Augen eines anderen Gastes, einer langjährigen Mieterin des Großvaterhauses, liegen deshalb stets auf mir und geben mir das Gefühl, als hätte ich irgendwas im Gesicht. Eine Weile bin ich mir selbst fremd, so als wäre ich eine Schauspielerin in der Rolle meines Vaters. Strange.

Wieder einmal wird klar, wie sehr die zweite Frau meines Großvaters, die Mutter meines Nachzügler-Vaters, die Familie auseinandergebracht hat. Ihr war niemand recht, auch ihre Stiefkinder nicht, das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, einzig der schwule H. hatte sie als Mutter annehmen können, er war noch ein Baby, als seine leibliche Mutter starb. Die Matriarchin löste nach dem Tod ihres Mannes offenbar alle Bindungen zu den Stiefkindern, zog mit ihrem Sohn, meinem Vater, und uns zusammen und verurteilte alle(s) in Grund und Boden. Deshalb wusste ich mein halbes Leben nicht, dass J. und M. meine Cousins sind, sowieso war ihr peinlich, dass M. behindert ist, und auch meine Eltern haben nichts dazu beigetragen, Licht in die Verwandschftsverhältnisse zu bringen. Konformität mit der Greisin war bestimmt konfliktfreier so.

Umso mehr freue ich mich über meine neu erworbene Cousine. Es macht Spaß, mit ihr zu plaudern, da ist nichts Fremdes, ich kümmere mich die ganze Zeit kaum um Mama, die klein und mit glatten Teint neben mir sitzt und an ihrem Schnitzel rumschneidet. Ich will endlich meine Familie kennenlernen!

Wir bleiben doch in Kontakt, wünschen wir uns beide zum Abschied, J. hat in der Zwischenzeit alles geschuckt, auch den Kaffee und die Riesenportion Nachtisch, bedauern noch eben, dass wir uns erst jetzt getroffen haben und hoffen auf mehr davon in Kürze.