Freitag, 19. April 2013

Landsberger Poesieautomat: "Und diese langatmigen Orgasmen: Alles umsonst! Freilich verhindern wir kaum noch etwas."

Neuerdings treffe ich zufällig Leute, manchmal sind das eher wahrscheinliche Zufälle, wie vorhin, als ich im Café bei der Pasta saß, aber das schlimme ist, ich habe den Namen der Person vergessen. Aber gestern auf der Rückfahrt von Marbach, in Ludwigsburg, traf ich doch tatsächlich mit einem unglaublichen Unwahrscheinlichkeitsquotienten von wasweißich vorm Bioladen einen schwäbisch-berlinerischen Satsanglehrer, der mich im letzten Jahr in eine neue Runde Esoterik geloopt und den ich damals in mein Heim geladen hatte, damit er seinen Ideen Ausdruck verleihen möge. Bekanntlich brach ich im Herbst komplett mit der Esoterik, löschte alle entsprechenden Kontakte nicht nur aus Facebook, sondern ebenso aus meinem Gedächtnis und grübele nun darüber, welche karmischen Verstrickungen mich direkt in seine Arme laufen ließen.

Zehn Stück Cigaretten "Von morgen an nie wieder."

Das Gefühl, mit Kurt Tucholsky karmisch verbunden, wenn nicht gar eine Wiederverkörperung zu sein, mögen viele Literaturbegeisterte teilen. Ich kann mich nicht entscheiden, welches mein Lieblingsexponat im Deutschen Literaturarchiv Marbach ist: Entweder die Seidensocken von Schiller himself oder das handgetippte Briefchen von Tucholsky an Ella, sie möge sich doch gegen 6.25 Uhr abends im Stadtpark am kleinen Eierhäuschen einfinden, um zu überlegen, wie sie ihren hartherzigen Vater (mit der goldenen Uhrkette) dazu brächten, in ihre Verbindung einzuwilligen. Wer so liebenswürdig seinen Tag plant, wird nicht mit Zufällen rechnen müssen.

Ein einsamer Arbeitsplatz zwischen Kästen, in denen Buchumschläge lagern.

Ganz ohne Zufälle geht es im gesamten Archiv zu. Der Herr Archivar W., der sich zuständig für das Sammeln und Aufbewahren von Netzliteratur zeigt, führt und erläutert uns durch die ober- und unterirdischen Heiligtümer deutscher Schreibkultur seit Beginn der Schillerlocke. Hier wird nach strengen Ordnungskriterien alles des Bewahrens Würdige in Regale, Schachteln, Schränke, Ordner und andere Hohlräume hineinsortiert. Um die digitalen Kladden kümmert sich Herr W., der uns in zweieinhalb Stunden Rede und Antwort steht und uns durchs Haus und die Keller führt. Die Leserin und ich sind begeistert und hängen sichtlich an seinen Lippen, es gibt viel bisher nicht Gewusstes zu bekakeln und die ganze Angelegenheit des Archivs nimmt sich aus wie ein mit einem gewissen Wahnsinn behaftetes Unternehmen, das niemals beendet sein wird und werden kann – und wenn, dann nur bei endzeitlichem Stromausfall.

Karteiisch

Im LiMo, dem Literaturmuseum der Moderne, zeigt eine Ausstellung die Zettelkästen diverser Schreibende, auch einzeln werden wild oder ordentlich beschriftete Kateikarten zwischen Plexiglasscheiben präsentiert und die schiere Menge und Vielfalt an Themen, Rubriken, Stichwörtern wirft unsere simplen Bewusstseine wie gefältetes Gebirge auf und lässt uns erfürchtig bloß kurze Blicke und Bemerkungen tauschen.

Murmelnd ab ...

Nachtrag: Aufgrund intensiver und mir insgeheim peinlicher Recherche habe ich mittlerweile auch den Namen der Person herausfinden (nicht erinnern) können. Es ist ein recht langweiliger Name, der nicht zu der Person passt – das muss erstmal als Ausrede genügen.




Mittwoch, 17. April 2013

Marbachnacht

Mittlerweile sind die Leserin und ich etwas trunken. Nach Biergarten am Neckar und Abendessen im vegetarischen Restaurant wieder in der Ferienwohnung mitten in der marbachschen Altstadt. Trotz Plastikfußboden und Komplettvertäfelung und -innenverschandelung des wertvollen Fachwerkgutes genießen wir die südliche Frühlingsluft, die durch verschiedene Dachschrägenfenster uns umweht.

Über unsere Familien und popkulturelle Serien haben wir geredet, ach ja, wir sind ja hier im Schwäbischen, es ist jetzt alles etwas wirr, denn Kräuterbrände gibt es überall, Fachwerk aber nicht und auch keine Stadtmauern, die mit Trutzigkeit punkten und Buchläden in alten Kirchen, auf dieser Tastatur gibt es keine Gedankenstriche, naja, später einfügen, die Leserin legt schon die Füße auf den Glastisch, sie befürchtet Mücken, die sich im Frühling unweigerlich einfinden werden, aber ich weiß sie zu beschwichtigen.

Wir haben sie schon erkundet, die kleine Stadt, wissen, wo wir morgen frühstücken werden, nämlich beim Bäcker, dessen Zertifikate und Auszeichnungen im Schaufenster zu beeindrucken wissen, haben Gärten am Hang gesichtet, an denen sich ein fleißiger Steinmetz zu schaffen macht und überhaupt, der Frühling beginnt, eine vorsichtige Farbigkeit liegt auf Gebäum und -sträuch, morgen schon wird das Grün überhand nehmen und dann ist der Winter vergessen, als hätte er niemals stattgefunden. Welcher Winter, hatten wir uns schon gefragt, im Regionalzug zwischen Würzburg und Ludwigshafen konnten wir bei offenem Fenster Streitpatiencen legen, während kleine Schwitzflecken unsere bereits gelichtete Kleidung bedrohten.

Ich weiche ab.

Was erwarten wir eigentlich von unserem Besuch im Archiv? Hier ist es überall ziemlich schiller-ig und ich erwäge die Anschaffung eines T-Shirts mit einem Zitat des Mannes, von dem ich wenig weiß, außer seiner unsäglichen Glocke, mit der mir die zehnte Klasse verschandelt ward. Ich empfinde mich als Kulturbanausin, die in einem blasenartigen Konstrukt frei von historischen Einflüssen vor sich hinschreibt, hintreibt, Worte aneinanderreiht, die letztlich bloß Buchstaben sind, die wenigstens im Satzzusammenhang halbwegs sinnvoll durch bloßes Dasein ... Ach, Herr Schiller, lass mich schlafen gehen, es wird Zeit. Die Leserin hat Schnarchen angekündigt und ich bin auch schlicht müde.