L.s Bücher, die ich mir ausgesucht habe, liegen griffbereit. Sie behandeln teils spirituelle, teils gesellschaftskritische Themen, manche sind aus den 70er Jahren, als der damals noch junge L. begann, sich für seine Umwelt und sein eigenes, damit verknüpftes Leid zu interessieren. Die Neuesten ringen um eine Aufarbeitung der Corona-Zeit. Es bereitet mir Unbehagen, in diesen zu lesen und so widme ich mich ersteinmal jenen über die verschiedenen Indianer-Kulturen und dem schönen Lila – Das kosmische Spiel nebst Spielfeld, das L. eigenhändig laminiert hat, dem Astrologie-Buch mit den wunderbaren Bildern aus Jahrhunderten und der Textesammlung zur Weisheit der Upanishaden.

Zwei Wochen Traurigkeit. Ich denke sehr oft an L. und ob/dass er sein spirituelles Ziel ereicht hat. Dem Jahr seit der Diagnose ist er mit einer Art therapeutischem Eifer im Garten begegnet und alles schien darauf hinzudeuten, dass er gesunden möchte. Wie wir einge Kubikmeter an frischer Erde in den Garten gekarrt hatten, wie er den Ertrag von Gemüse und Pflanzen aller Art (auch Hanf, den er mit dem Bildhauer geteilt hat) genossen hat, wie er noch den Schornstein gemauert hat, bevor Anfang des neuen Jahres das Anlegen neuer Öfen in den Schrebergärten nicht mehr gestattet war.

Ich selbst war in den Frühjahrsmonaten mit aufregenden Dingen beschäftigt, während es L. immer schlechter ging. Zwei Online-Kurse an der Moskauer Kunstschule fesselten meine Aufmerksamkeit und es war so, als würde ich für eine Auftragsarbeit noch was drauflegen. Dabei habe ich mir den Auftrag ja selbst gegeben. Collage und Zeichnen wählte ich aus. Dabei lernte ich viele neue russische Wörter wie bedingter Raum, wobei interessant ist, dass ich für einige Begriffe keine Entsprechungen im Deutschen fand. Sogar der Name des Kurses, der sich in etwa in Urbane Schnörkel übersetzen lässt, bleibt wage. Es gab überraschende Momente, als mein Blickwinkel sich komplett drehte, wenn die Lehrerin begann, Fragen zu Komposition und Farbe zu stellen und mir dann ihr Verständnis meiner Arbeiten vorlegte. Ohne die Aufgabenstellungen und besonderen Anleitungen wäre ich nie zu solchen Zeichnungen gekommen. Alle Teilnehmer hatten völlige Freiheit, sich auszuprobieren und das Sujet zu erforschen. Die vielfältigen Kursangebote, die besonderen Herangehensweisen und deren professionelle künstlerische Betreuung ziehen mich sehr an. Ich kann mich nicht erinnern, solch eine Begeisterung während des meines Studium erlebt zu haben und auch eine Gruppenbesprechung der Resultate fehlen, wenn ich zurückschaue. Vielleicht war ich damals auch nicht reif dafür und habe sie geschwänzt.

Uns beiden, L. und mir, ist gemein, dass wir der aktuellen Situation im Land ausweichen (ich hoffe, das klingt nicht unangemessen). In der Beschäftigung mit der russischen Sprache und der künstlerischen Arbeit habe ich ein reizvolles Konzentrationsobjekt gefunden. Seinerzeit übte ich Mantren in Sanskrit, jetzt russische Vokabeln und zwischendurch betrachtete ich ohn' Unterlass das zermürbende politische Geschehen (ein Trauerspiel). L. hingegen war draußen im Garten und jetzt ist er heraus aus der Welt. Neid ist sicherlich nicht das richtige Wort, aber ich muss gestehen, dass ich seinen Weg als nachahmenswert empfinde. Doch, es hält mich einiges: die geometrische Form, die jetzt gerade das Sonnenlicht durchs Fenster auf die Wand mir gegenüber wirft, die meditative Stimmung, die mich heute erfassen mag, wenn ich durch den Tag treibe, die Zubereitung eines gesunden Mahls (ja, ich sollte mit dem Zucker sparsamer umgehen), die Aussicht, mit dem Bildhauer morgen draußen zu sein und zu zeichnen, zu fotografieren, zu schnitzen. Wir werden sehen.