Klaubt ein kleines rostiges Eisenteil vom Wegesrand und drängt es mir auf. Neben dem auseinandergebrochenen Wacholderstrauch mit dem Findling davor eines der letzten authentischen Objekte auf dem Hof, behauptet er. Dem Hof meiner Vorfahren in St.. Der Bildhauer begeleitet mich auf dem Weg in meine Familiengeschichte. Auf dem, wie ich nachlese, 110 ha (früher 250 ha) großen Gelände befindet sich nun ein Gestüt. Das Haupthaus wurde im Jahre 2002 komplett saniert, das alte offensichtlich abgerissen und genauso nachgebaut – ein langes Fachwerkhaus mit Querhaus am Ende. Sogar das Fundament aus Sandstein könnte neu sein, er ist hell und die Kanten der Quader kein bisschen gerundet. Über dem Haupttor der Balken mit der Inschrift, den Namen meiner Vorfahren, Jahreszahl und ein christlicher Spruch darunter. Auch der Balken ist neu, nur an den Enden erkennt man noch ein Stück angesetztes, verrottetes rauhes Eichenholz mit Eichenlaubschnitzerei. Der jetzige Inhaber muss ein Vermögen in den Neubau gesteckt haben! Niemand ist auf dem Gelände, irgendwann aber kommen nacheinander eine junge Frau und ein älterer, bäuerlich aussehender Mann mit ihren Autos zurück, ich stelle mich vor als eine späte Nachfahrin der Sch. und ob wir ein wenig herumspazieren dürften. Man lächelt und gibt uns Erlaubnis. Alle anderen seien auf Turnieren unterwegs, es wäre niemand zu Hause. Ich hatte schon scheu geklingelt.

Es ist eine seltsame Reise. Zwei Tage zuvor waren wir bei Kusine H. am Dümmersee zu Gast. Wir kennen uns nicht. Und wir sind neugierig aufeinander. Sie ist knapp 70 und wir entdecken jede Menge Gemeinsamkeiten in unseren Lebensentwürfen. Sogar mein lieber Bildhauer kann mitreden, hat H. doch auch Kunst studiert, zumindest in Beuys’ Nähe. Den Fotokoffer habe ich dabei und sie erzählt mir, während wir Bilder betrachten, von unseren Urgroßeltern und den Tanten, die Geschwister ihrer Großmutter und meines Großvaters, also eigentlich unsere Großtanten, zu neunt waren sie. Noch immer kann ich die Tanten nicht richtig auseinanderhalten. Anna, H.s Großmutter, erkenne ich mittlerweile an der besonders breiten Nase, die nächste hat ein schmales Gesicht und dunkle Augenringe und vielleicht mir am ähnlichsten, eine andere meist mit freundlich-breitem Lächeln, und jene Zurückhaltende, Hübsche, Vornehme, die seltener auf den Bildern zu finden ist. Und immer im Zentrum Urgroßmutter Henriette, mit straffem Mittelscheitel und eines der Kinder nah bei sich. Die Männer sind leichter zu erkennen, mein Großvater August, sein dicker Bruder und ganz selten dabei der Onkel, der nach Südamerika ausgewandert ist. Der Grund seiner Auswanderung, ein mögliches Zerwürfnis mit meinem Opa (der in der Partei), wie ich es mir ausgemalt hatte, war ein anderer: Er wollte mit seiner jüdischen Frau fort in eine bessere Zukunft. 1938 war das.

Wie H. mir, beinahe hinter vorgehaltener Hand, berichten konnte, hatte mein Opa, der zweitälteste der neun Geschwister, allerdings Anteil daran, was ich H. als ein Gefühl des Abgeschnittenseins von den Aktivitäten der Tanten bzw. dem Rest der Familie, beschrieb: Er lieh sich von einer der Schwestern 30.000 RM und zahlte sie nie zurück! Grund genug, von der Sippe ausgeschlossen zu werden. Die Nachfahren meines Opas August waren sich in der Folge genausowenig grün. (Und hier komme ich ins Spiel: Ich beabsichtige, so viele der Familienangehörigen wie möglich aufzusuchen, wenigstens zu kontaktieren, und mir ihre Geschichten anzuhören.) Eine andere Sachlage ist das vermehrte Auftreten von Homosexualität in unserer Familie, so etwa drückt H. das vorsichtig aus. Eine Freude überkommt mich. Ich versuche zu erklären, dass (fast) mein halber Freundeskreis aus lesbischen Pärchen besteht, und daher eine gewisse Affinität ähm, bei mir. Wir beleuchten die These, dass mein Onkel H. mit dem berühmten Sänger Freddy Q. nicht nur befreundet war, sondern richtig ‚befreundet’. H. ruft sogar einen ihrer Cousins an, um den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und H. wäre auch forsch genug, Freddy selbst anzurufen, um nachzufragen. Immerhin lebt er noch, wie wir mit einem schnellen Blick ins Interweb feststellen. Ich fühl mich mittendrin. Als wären wir eine große Familie. Wir sind ja auch eine große Familie. Es ist fast so als seien die Tanten auch dabei und sitzen mit uns über Apfeltarte mit Schuss und Chai nach einem tibetischen Originalrezept. H. zeigt noch Fotos von einem tibetisch-indianischen Powow in Kanada, an dem sie teilgenommen hat. Haben sich doch beide Stämme der gemeinsamen Wurzeln erinnert und das Widersehen zelebriert. Wiedersehen überall.

Irgendwann müssen wir aber los. Mein armer Bildhauer, der natürlich schon längst den Überblick über meine Verwandtschaft verloren hat, wird müde, und ich auch. Wir machen uns auf den Weg nach OS zu seiner Schwester. Ein wundervoller Sonnenuntergang begleitet unseren Weg durch gemeinsames Heimatland.

Auf der Rückfahrt Richtung St. (und dem alten Gut) kommen wir über D., wo die Tanten aufgewachsen sind und lange gewohnt haben. Die Tochter des dicken Onkels wohnt immer noch dort, ich habe ihre Telefonnummer dabei, aber ich rufe sie nicht an. Eine Ortskundige, die wir ansprechen, weiß noch über den dicken Onkel zu berichten, der besaß eine Kneipe und wenn der die Teufelsgeige herauskramte, gab es kein Halten mehr. Das Haus steht auch noch, aber es ist aufs Schlimmste renoviert, die Fensterbögen sind zugemauert, das große Wagentor zwei Fenstern gewichen, die früher ausladende Treppe nur noch ein blödes Stufendings, und überall weiße Kacheln! Die Ortskundige ermuntert mich, nebenan im Architekturbüro zu klingeln, dort arbeitet eine der Archivarinnen des Ortes. Als ich klingele und meinen Namen ausspreche, geht sofort der Summer und wir werden freundlichst empfangen. Dass mein Name in einer mir völlig fremden Stadt noch Türen öffnet, ist mir ein großer Schatz!

Daheim wühle ich wieder durch die Fotos und versuche sie zu ordnen. Mit einigen davon möchte ich ein halbwegs aussagekräftiges Album zusammenstellen. Vielleicht nehme ich auch H.s Bilder von der CD dazu und mache eine digitale Version. Die kleine (meine) Mutter indes erinnert sich nicht mehr an Ehe oder Kinderaufzucht. Das gehörte ja sowieso nie richtig zu ihr, sagt sie. Das Angeheiratetsein meint sie bestimmt. Sei’s drum. Ich träume, dass ich meinen Cousin J. in der Firma besuche, die Pförtnerin findet ihn nicht an seinem Platz und der Bildhauer und ich laufen durch ein lichtvolles Firmengebäude im Bauhaus-Stil mit kunstvollen dreifachen Baumsilhouetten-Spiegelungen, um ihn zu suchen.