Traurig bin ich, als ich von Mama zurückfahre. Habe zwar das Rad dabei, auf dem mein Blick die ganze Zeit ruht, der Details des Rahmens verfolgt und der mechanischen Elemente, so als könne dies die Rätsel der Welt lösen. Als wir zum Markt los sind, war es schon zu spät, ich weiß ja, dass wir mittlerweile für den Zehn-Minuten-Weg eine halbe Stunde brauchen, immerhin geht sie noch, aber fast muss sie weinen jetzt kann ich fast gar nicht mehr gehen, buchstäblich alle fünf Meter halten wir kurz, damit sie Kraft schöpfen kann. Ich muss sie drängen, um eins schließen die Stände, um viertel vor beschließen wir, dass ich allein weiter gehe und sie auf der Bank vorm 3.-Welt-Laden auf mich wartet. Wie üblich kaufe ich Frisches, in dieser öden Stadt gibt es sonst keinen Laden mehr, man muss raus aufs Land zu Edeka oder einer dieser Ketten, wo es nur Blödessen gibt und ich hab kein Auto. Ich könnte noch zum Bioladen gehen, der ist in okayer Spazierweite, aber Dudi sagt, Mama müsse ja nun kein teures Biofood mehr haben und kauft ihr immer Fertiggerichte von Penny, die ich dann nach Wochen wegwerfe.

Ein großer graugestromter Kater hatte sich in der Zwischenzeit zu Mama auf die Bank gesellt und lässt sich von ihr durchstreicheln, sein übergroßes Bedürfnis nach Nähe finden wir extrem niedlich, achtet er doch so gar nicht auf coolness, wie es sich für einen Kater seiner Statur gehören könnte, auch hat er einige Kampfesspuren am Ohr, ein gefährlicher Typ, aber er biedert sich an und wirft sich wieder und wieder an ihre Hüfte und genießt die Zärtlichkeiten ohne Hemmungen.

Unsere wöchentliche Tour führt uns weiter zum Mittagessen, abwechselnd zur Hausmannskost auf dem Dach des Kaufhauses, zum Indischen oder zum Fischbäcker, wo wir lange sitzen und viel reden. Danach Blumen kaufen, Banksachen erledigen, zur Marienstatue in den Dom, Kerzen anzünden und ein bissel beten. Weiter mit dem Taxi nach Hause, für den Rückweg zu Fuß reicht die Kraft schon lange nicht mehr. Daheim wird gebadet und geölt, dann gibt es Tee mit Kuchen vom Marktbäckerstand. Die Bedürfnisse, der Hunger, sind kleiner geworden, das Essen schmeckt nicht mehr besonders, aber das Süße mundet wohl. Ich setze sie, frisch gebadet, geölt und nackt, in Laken und Decken gehüllt, in ihren roten Sessel, stelle einen kleinen Tisch daneben und sie bedient sich und lässt sich von der Sonne bescheinen. Dort guckt eine kleine Schulter raus, ein Schlüsselbein, die Haut ist weiß und zart, und wer wollte, könnte da noch viel Liebreizendes entdecken.

Bis auf weiteres verknotet.

Am Abend fahre ich zurück, das Rad mit in der Bahn und mein Blick liegt auf den silbernen Speichen und dem großzügigen Profil der Reifen. Ich bin traurig, es gibt aber keine Worte oder keinen besonderen Grund, und ich will auch keine finden, ich hatte sowieso zu viel gegrübelt in den letzten Tagen, über die Arbeit an Webseiten, die ich nicht selbst konzipiert und gestaltet habe (Notiz an mich: das mache ich nie wieder), ob mich eine Beziehung spirituell weiterbringt oder über den Kapitalismus, der immer und immer weiter so macht, ich will das nicht mehr verstehen müssen und krieche todmüde ins Bett mit dem leisen Ruf: Lasst mich doch in Ruhe mit euren bescheuerten Webseiten!

Vorher hatte ich noch einer dieser schönen wissenschaftlichen Sendungen gesehen, die die These verfolgten, die Tierzeichnungen in Lascaux seien aus bzw. um Formen diverser Sternbilder gebildet, und ich wünschte mich direkt ins Neolithikum, allein, nichts anderes als den Sternenhimmel betrachtend oder den Mondverlauf und auf einem Knochenstück mit Punkten einen Kalender eingravierend. Vielleicht auch zu zweit, vielleicht mit dem Bildhauer, der ja Ähnliches tut, wenn er aus der Natur Formen erschafft. Hinweg die Frage, ob man zu zweit sein muss, die würde gar keine Rolle spielen, einfach weil wir zu zweit wären.





Auch alte Leute brauchen Anregung, das eine oder andere schöne Erlebnis (der Kater) und ein bisschen Freude im Leben. Penny-Fertiggerichte sind vermutlich wirklich zu fad...andererseits fehlt Pflegenden auch oft die Zeit, Lieblingsgerichte zu kochen. Schwierig, allem gerecht zu werden.
Schön, wie Sie sich um ihre Mutter kümmern und wie Sie sie beschreiben.

'Alte Leute' – Das Seltsame ist, ich finde sie gar nicht alt, obwohl sie natürlich alle Attribute des Altseins besitzt, einen alten Körper eben, den man irgendwie durch die Gegend schleppen muss. Innen ist sie immer noch gleich, und ich kann das kleine verletzbare Mädchen sehen, das Kriegskind und die junge Frau der 50er mit Petticoat und einem kreativen Beruf, den verschiedensten Wünschen an die Welt, auch die Enttäuschungen, die sich mit der Ehe verbanden, das Freiheitsliebende, aber eine noch viel größere Angst vor Freiheit.

(Achso, liebe Trippmadam, ich hätte da noch ein paar Erkältungstipps für Sie ...)

Ich hatte bei beiden Großmüttern immer das Gefühl, sie wären innerlich noch junge Mädchen. Man muss dazu sagen, dass meine Großmütter Cousinen waren und zusammen aufgewachsen sind, sich also auch schon als junge Mädchen kannten. Vielleicht wirkten sie deshalb noch so jungendlich auf mich.

Der berühmte Pianist Menahem Pressler sagte ein halbes Jahr vor seinem 75. Geburtstag einmal Folgendes zu mir:

Man vergisst leicht das eigene Alter, wenn man nicht in den Spiegel sieht. Denn das Herz ist ziemlich jung.

Er ist inzwischen 91 und gibt immer noch Konzerte:

Wenn ich spiele, bin ich niemals älter als fünfzig. Wenn ich unterrichte, bin ich niemals älter als vierzig. Nur wenn ich die Treppen raufgehen muss, dann ist mein volles Alter da..

Wie wunderbar sich das alles vermischt. Man sollte keine Angst mehr vorm 'Altwerden' haben.