Donnerstag, 12. Dezember 2019


Vielleicht ist dies einfach die Geschichte eines jungen Mädchens, dessen geliebter Bruder, strahlend schön und sehr jung, in den Krieg ziehen musste und im eisigen Russland bei dem Versuch, einen Fluss zu durchqueren, ertrunken ist. Vielleicht ist dies die Geschichte eines Unglücks, das die junge Frau, vor Trauer und Sehnsucht krank an Seele und Geist zurückgelassen hat. Und vielleicht braucht ein richtig gutes Drama doch all die Vokabeln, die im vorigen Text aufgezählt wurden.

Der junge Mann, mit Ideenreichtung und Begabungen für Literatur, Kunst und Musik beschenkt, konnte sich den historischen Begebenheiten nicht entziehen, musste Mutter und Familie verlassen, wurde auch von der Mutter verlassen, die nicht die Kraft hatte, ihn vor den letzten Kampfeinsätzen zu schützen – sie hätte ihn verstecken können, aber das wäre womöglich ihrer aller Tod gewesen, wie sie ihre Entscheidung zu rechtfertigen wusste.

Das junge Mädchen konnte sich nicht ausmalen, wie es ihrem Bruder in der Ferne erging, dazu wusste sie zu wenig von den Grausamkeiten, die sich Menschen antun. Aber sie begriff, was geschehen sein musste, als der Vater verzweifelt nach seinem Sohn suchte, allein diese Verzweiflung des Vaters, der später selbst in Not und Gefangenschaft geriet am anderen Ende Europas, spiegelte das unentrinnbare Schicksal des Bruders. Niemals hatte er mit seiner Tochter darüber sprechen können. Als viele Jahre später ein Freund des Bruders auftauchte, der ihn hatte sterben sehen und der Frau wieder und wieder, zwanghaft, davon erzählte, wies sie ihn ab.

Vielleicht ist dies die Geschichte eines jungen Mannes, der seine kleine Schwester beschützen wollte und sich für die Familie geopfert hat, damit sie alle leben konnten. Ich stelle mir vor, dass niemand von ihnen jemals wieder froh wurde. Trotzdem taten sie, als müsse alles so ein, schließlich hatten die meisten Familien Tote zu beklagen, was bedeutet schon so eine Klage, wenn sie aus allen Kehlen gleichzeitig klingt. Und nach dem Krieg machten sie weiter, als wäre nichts geschehen.

Vielleicht ist dies die Geschichte einer Verwechslung. Wie die junge Frau älter wurde, scheinbar fröhlich durch eine Nachkriegszeit tanzend mit Petticoat, ihr späterer Mann mit Haartolle, und wie wiederum sie all ihre Talente verbarg oder ganz aufgab für eine Ehe, die nicht glücklich war. Die junge Frau verwechselte den Mann und später die Kinder, die sie bekamen. Es hätte alles anders sein sollen, aber sie war unfähig, richtig von falsch zu unterscheiden.

Und vielleicht ist dies die Geschichte eines jungen Mannes, der durch das Jenseits gewandert war – wie so oft, so wie wir es immer tun – und zurückkam mit einem neuen Körper, um an der Seite der jungen Frau sein Versprechen einzulösen, sie zu beschützen und sie wieder glücklich zu sehen. Ja, ich kann erkennen, dass er sein Schicksal auf sich genommen hat, mit dem Gleichmut und dieser Behendigkeit, die so typisch für ihn ist. Er war nicht zurückgekommen, um zu richten, sondern zu lieben. Seine Liebe war rein und gänzlich ohne Berechnung.

So ein Leben dauert viele Jahre, und so sehr sich der junge Mann bemühte, seines und das der jungen Frau zu ordnen, um beiden das Große Ziel zu ermöglichen, es gelang ihm nicht. Es ist uns nicht gegeben, das Leben eines anderen zu meistern, sondern ausschließlich das eigene. Das hatte der junge Mann nicht verstanden und das hatte ihm niemand beigebracht. Nach all den Jahrzehnten war die junge Frau alt geworden und hatte sich selbst vergessen, war der junge Mann erschöpft von Schuld- und Versagensgefühlen, die ihn unaufhörlich begleiteten, denn all seine Weisheit und sein Verständnis hatten nichts gegen ihre Weigerung auszurichten vermocht, ihn als den zu erkennen, der er war.