Freitag, 18. Juni 2021
Trotz der angekündigten Blaualgen ist das Wasser angenehm und erfrischend. Seit irgendwie fast zwei Jahren war ich nicht hier, letztes Jahr hatte anscheindend jemand Burgunderalgen in den See gekippt, ich weiß nicht wo die sonst herkommen, der See hatte sich in ein dreckiges rotbraun verwandelt, auf g**gle earth kann man sehen, dass er der einzige ist von all den Kiesteichen, die sich drumherum befinden.

Nachdem ich mich entkleidet habe, steht ebenfalls eine Frau, mit der ich mich gestern schon gegrüßt hatte, von ihrem Laken auf und folgt mir zum Steg. Sie schwämme nicht gern allein und so machen wir ein paar Bahnen zusammen. Aus einem Mitteilungsbedürfnis heraus erwähnt sie ihre baldige Reise nach Görlitz und als ich nachfrage, entspult sich ein herzliches Gespräch über unsere Mütter, ihre im Januar mit fast 90 Jahren gestorben, wie die meine, über die Jahre der Mutter-Pflege, für sie sie frühzeitig in Rente gegangen sei, immer zwischen Görlitz und hier pendelnd; die Mutter beim Sterben zu begleiten sei schmerzhaft gewesen -- ich merke, wie wir uns in unseren fast gleichen Erlebnissen und Gefühlen zueinander neigen, sind in einem Gleichklang der Schwimmbahnen und wenden stets gleichzeitig. Wir reden übers Sterben beim Leben, als gäbe es nichts Natürlicheres unter diesem schönen blauen Himmel.




Freitag, 19. März 2021
  • der Kühlschrank ist gereinigt
  • aus dem Gewürzfach ist Abgelaufenes entfernt und Frisches neu geordnet
  • neben der Küche ist das Arbeitszimmer
  • daneben sind die anderen Räume
  • darunter hatte die Nachbarin ihre vierte Psychose
  • darüber in meiner Seele wurde ebenfalls Dunkles erkannt und aussortiert
  • es gab weitere Erkenntnisse
  • mein Gemüt ist nun wieder klar
  • ich lebe gesund und zurückgezogen
  • einige Menschen haben sich ebenfalls zurückgezogen
  • ich bin darüber nicht traurig, aber etwas erstaunt
  • ich könnte noch 100 Sätze schreiben, habe aber keine Lust
  • das eine ist die Geschichte und das andere die wirkliche Wahrheit
  • es ist müßig, darüber zu schreiben
  • mehr denken als sprechen
  • ich glaube an die wirkliche Wahrheit, wann ist es endlich so weit
  • aus den Räumen unter mir erklingt kein Ton, denn die Nachbarin ist in der Klapse
  • darf man Klapse sagen
  • was darf man eigentlich überhaupt noch sagen
  • die wirkliche Wahrheit jedenfalls im Moment nicht
  • der Plan, die Maske zu frisieren, führt zu nichts
  • dies ist ein weiterer Listenpunkt
  • in einem anderen Stadtteil wird soeben eine Bombe entschärft
  • ich habe vorhin Plätzchen gebacken
  • im Kühlschrank stehen Gläser mit selbst eingelegten Möhren, die ich noch nicht probiert habe
  • die Tulpen sind schön
  • jetzt noch einen kleinen Film über einen holzhandwerkenden chinesischen Opa
  • dann schlafen




Mittwoch, 29. Juli 2020
Es wird immer (w)irrer. Weiterhin bewege ich mich in Erzählungen über diese Welt. In der einen wird alles wieder so wie früher, und so wie es aussieht, ist es fein und richtig. In einer anderen Welt werden wir von einem unsichtbaren Feind bedroht und mit einer Waffe ausgerüstet, die so unausgereift ist, dass spätestens nach Erhalt wir alle sterben. In wieder einer anderen Geschichte ist die Schlacht bereits geschlagen, die Zeitenwende (nebst Weltfrieden) schon da, wir müssten nur genau hinschauen. Nachrichten, die ich für wahr gehalten habe, werden im nächsten Video schonungslos zerlegt, allerdings mit der Rhetorik der Gegenseite, die auf mich genauso plausibel wirkt. Da ist DT der Gute, der Weltenretter, da wird die Wiederauferstehung eines Präsidentensohnes immer wahrscheinlicher, da gibt es QOhrenzupfen und Nasereiben als heimliche Botschaften an die befreundeten Verschwörer. Und Astrologen, die Geburtshoroskope von Entscheidungsträgern referieren, Fremde, die zu Freunden werden, indem man des Nachts ihren hypnotischen Stimmen lauscht. Es gibt Dialekte, denen man nicht lauschen möchte, gut- bzw. schlechtgestaltete Logos und Webseiten, über die man sich jeweils wundert, während Nicht-Betroffene sich theatralisch als Betroffene outen, Mahner dringend zu Diesem und Jenem aufrufen, sich wieder und wieder widersprechend. (Wie die erhobenen Zeigefinger aller Beteiligten sich ähneln, ist bemerkenswert!)

Und mittendrin ich. Eine, die gern (und mit einer gewissen Neugier und Begeisterung) zuhört, aber feststellen muss, dass ihre Unterscheidungsfähigkeit mit der Zeit gelitten hat. Ich hatte einen YT-Account eingerichtet, um Kanäle zu abonnieren und wenigstens auf diese Weise Meinungsgleichheiten zu demonstrieren. Bisher habe ich weniger als zehn Videos geliked und nur eines kommentiert. (Es bleiben vielleicht zweidrei Sachen, die ich noch für grundsätzlich halte.)

Das Getöse im Außen erinnnert mich an den Film "A Beautiful Mind". Dort leistet im Weltkrieg ein Spion über Monate und Jahre akribisch hochwichtige Aufklärungsarbeit – und dann die Momente, in denen die Zuschauer das Geschehen begreifen als die krankheitsbedingte Verwirrtheit des Wissenschaftlers – das ist umwerfend!




Dienstag, 30. Juni 2020
Ein schönes Wort, das ich seit seinem Aufkommen in meinem Geistgefäß herumschwenke. Ich mag die zwei rs und die beiden as, die erstere halten und das Senkrechte und Kursive von N, i und v.

Genauso fühle ich mich gehalten von Narrativen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ich bin alle gleichzeitig – die furchtlose Spaziergängerin, deren Atem stets frei fließt, ich bin die Einkäuferin, die aus Rücksicht hinter ihrer Maske japst; ich bin die angebliche Verschwörungstheoretikerin, die Leugnerin und gleichzeitig, in einem Akt des Zwiedenkens, finde ich das zersetzende Handeln der Regierung plausibel; ich pendele zwischen Wut und Angst, während schon erlösende Versprechen locken; ich lebe in einer Dystopie, die 1984 gleicht, in einer schrecklich gleichgeschalteten Matrix, die Demokratie und jegliches magische Selbstverständnis untergräbt, – und über allem die Sterne, die eine wunderbare Zeitenwende voraussagen, nur Geduld.
1984 – Lizenzausgabe des Diana Verlages, Baden-Baden 1950, Einbandentwurf: Kurt Hilscher
1984 – Lizenzausgabe des Diana Verlages, Baden-Baden 1950, Einbandentwurf: Kurt Hilscher

1984 als Taschenbuchausgabe von 1950 hatte ich vor vielen Jahren, Jahrzehnten, aus dem Bücherregal meines Vaters entwendet – und nicht mehr wiedergefunden. Vorgestern trat ich erneut suchend vor meine Büchersammlung und mein Blick traf sofort den dunkelroten Leinen-Buchrücken mit den schwarz gedruckten Ziffern. Ich hatte es als junge Frau von 16 oder 17 Jahren gelesen, vielleicht noch einmal in meinen Dreißigern, den Film ein- oder zweimal gesehen. In meiner Erinnerung kommt der Film nicht an die Schrecklichkeit des Buches heran. Wie sehr es mich geprägt hat, erkenne ich beim nochmaligen Lesen der letzten Tage. Der fürchterliche Höhepunkt der Erzählung ist die Festnahme Winstons und die über Monate währenden Folterungen und Gehirnwäsche. Die schließlich in Zimmer 101 stattfindenden Umschulungen, während der die wahnhaften Vorstellungen der Partei wieder und wieder von O'Brian eintrichternd diskutiert werden, ermöglichen erst noch Winstons kritischen Protest, der zuletzt endgültig vernichtet wird durch Androhung des (für Winston) Allerschrecklichsten.

Als wäre das nicht genug, klingen die Ausführungen O'Brians plausibel. "Wir kontrollieren die Materie, weil wir den Geist kontrollieren. Die Wirklichkeit spielt sich im Kopf ab. Sie werden Schritt um Schritt lernen, Winston. Es gibt nichts, was wir nicht machen könnten. Unsichtbarkeit, Levitation – alles. Ich könnte mich von diesem Boden erheben, wenn ich es wollte. Ich will es nicht, weil die Partei es nicht will. Sie müssen sich von diesen dem neunzehnten Jahrhundert angehörenden Vorstellungen hinsichtlich der Naturgesetze freimachen. Die Naturgesetze machen wir."

Ähnliches wird auch von gewissen spirituellen Meistern behauptet. Was das betrifft, stecke ich genauso in einem yogischen Narrativ fest. Mich erschreckt die Stärke der Kraft der Behauptung. Ihr nachgebend würde ich alles glauben! Die Frage ist, was können wir glauben? Welches Narrativ ist das richtige, das wahre? Wo finde ich wahre Wahrheit? Was kann ich wirklich zweifelsfrei wissen? – Ich bleibe dran; in der Zwischenzeit hören Sie die aktuellen Nachrichten. (Nicht vergessen: Ozeanien liegt mit Ostasien im Krieg.)




Montag, 23. März 2020
Ich versuche weiterhin, die Ereignisse positiv zu sehen und habe seit Tagen erstaunlich gute Laune. Allerdings las, sah und hörte ich bei vertiefenden Recherchen in offstream, alternativen Nachrichten und auch Esoterik Dinge, die mich, sagen wir mal, aufrührten. Es ist nicht möglich, sich ein einigermaßen korrektes, geschweige denn wahres Bild zusammenzureimeninformieren. Jede Zahl, jede Tatsache wird durch Berechnungen, Prognosen und Meinungen so entstellt, dass es mir Herz und Verstand verdunkelt.

Ich halte mich also an Fakten. Die Sonne scheint. Der Himmel ist blau ohne eine Wolke. Die kalte Luft rötet Gesicht und Hände, der Rest des Körpers befindet sich unter warmer Kleidung. Immer mehr Grün erfüllt den Blick, auch Gelb, Weiß und Rosa. Wir sind jeden Tag draußen, der Bildhauer und ich. Hirsche äsen ungestört auf Feld und Wiese. Viele andere Wildtiere sind zu sehen, Greifvögel, Storche, Hasen, Dachse. Ich halte die Kontaktsperren für Irrsinn. Der niedersächsische Ministerpräsident ist der einzige, der zu bedenken gibt, dass sich die Leute zu Hause auf den Keks gehen werden oder Schlimmeres. Ich würde gern das Mütterlein wieder sehen und überlege, ob ich irgendeine Ausnahmesache geltend machen kann – damit sie mich nicht völlig vergisst.

Das Café hat seit dieser Woche zu und so lade ich die Leserin zum wöchentlichen Frühstück bei mir. Ich hatte sie gebeten, Klopapier mitzubringen und besitze nun vier Rollen. Ich biete Kaffee und gesunde Lebensmittel, wir besprechen die Lage und auch ihre berufliche Situation, deren aus der besonderen Historie des Buchladens erwachsene Schwierigkeiten wir schon seit Monaten, vielleicht auch Jahren versuchen zu erhellen. Ich finde, sie ist eine hervoragende Denkerin, und an unseren Gesprächen mag ich die Bedächtigkeit, die ruhigen Denkpausen und das Ins-Unreine-Reden, das wir erst später strukturieren. Was sie im Laden halte, frage ich. Allein die Bücher, das spezielle Sortiment, das sie anböten, und die Möglichkeit, jederzeit etwas zu lesen und nachzusehen. Sie könne sich ihre Wissbegier sonst gar nicht leisten. Das gefällt mir, es sind weder das Geld, noch die Kolleginnen. Es sind einfach die Bücher.

Vetter und Basen melden sich innerhalb weniger Tage. J. ist ziemlich aus dem Häuschen, was er aber nicht als Panik gedeutet haben möchte. Was uns unterscheidet, wird mir klar, ist, dass ich nichts zu verlieren habe, er aber alles in die Erhaltung des Riesenhauses unseres Großvaters inmitten der Heimatstadt verwickelt ist. Ich möchte nicht tauschen. Er erzählt, dass im Dom, anscheinend Gang und Gäbe, der Probst eine Messe für sich (den Probst) allein gehalten hat. Niemand war sonst da.

Wie ich oft mit dem Mütterlein dort im Dom die Marienstatue besuchte. Wie wir eine Kerze anzündeten, und uns betend auf der Bank niederließen. Und wie sie sich nach einer Weile zu mir drehte und leise fragte, wollen wir gehen? Sie war immer die Erste, die fragte.




Donnerstag, 12. Dezember 2019


Vielleicht ist dies einfach die Geschichte eines jungen Mädchens, dessen geliebter Bruder, strahlend schön und sehr jung, in den Krieg ziehen musste und im eisigen Russland bei dem Versuch, einen Fluss zu durchqueren, ertrunken ist. Vielleicht ist dies die Geschichte eines Unglücks, das die junge Frau, vor Trauer und Sehnsucht krank an Seele und Geist zurückgelassen hat. Und vielleicht braucht ein richtig gutes Drama doch all die Vokabeln, die im vorigen Text aufgezählt wurden.

Der junge Mann, mit Ideenreichtung und Begabungen für Literatur, Kunst und Musik beschenkt, konnte sich den historischen Begebenheiten nicht entziehen, musste Mutter und Familie verlassen, wurde auch von der Mutter verlassen, die nicht die Kraft hatte, ihn vor den letzten Kampfeinsätzen zu schützen – sie hätte ihn verstecken können, aber das wäre womöglich ihrer aller Tod gewesen, wie sie ihre Entscheidung zu rechtfertigen wusste.

Das junge Mädchen konnte sich nicht ausmalen, wie es ihrem Bruder in der Ferne erging, dazu wusste sie zu wenig von den Grausamkeiten, die sich Menschen antun. Aber sie begriff, was geschehen sein musste, als der Vater verzweifelt nach seinem Sohn suchte, allein diese Verzweiflung des Vaters, der später selbst in Not und Gefangenschaft geriet am anderen Ende Europas, spiegelte das unentrinnbare Schicksal des Bruders. Niemals hatte er mit seiner Tochter darüber sprechen können. Als viele Jahre später ein Freund des Bruders auftauchte, der ihn hatte sterben sehen und der Frau wieder und wieder, zwanghaft, davon erzählte, wies sie ihn ab.

Vielleicht ist dies die Geschichte eines jungen Mannes, der seine kleine Schwester beschützen wollte und sich für die Familie geopfert hat, damit sie alle leben konnten. Ich stelle mir vor, dass niemand von ihnen jemals wieder froh wurde. Trotzdem taten sie, als müsse alles so ein, schließlich hatten die meisten Familien Tote zu beklagen, was bedeutet schon so eine Klage, wenn sie aus allen Kehlen gleichzeitig klingt. Und nach dem Krieg machten sie weiter, als wäre nichts geschehen.

Vielleicht ist dies die Geschichte einer Verwechslung. Wie die junge Frau älter wurde, scheinbar fröhlich durch eine Nachkriegszeit tanzend mit Petticoat, ihr späterer Mann mit Haartolle, und wie wiederum sie all ihre Talente verbarg oder ganz aufgab für eine Ehe, die nicht glücklich war. Die junge Frau verwechselte den Mann und später die Kinder, die sie bekamen. Es hätte alles anders sein sollen, aber sie war unfähig, richtig von falsch zu unterscheiden.

Und vielleicht ist dies die Geschichte eines jungen Mannes, der durch das Jenseits gewandert war – wie so oft, so wie wir es immer tun – und zurückkam mit einem neuen Körper, um an der Seite der jungen Frau sein Versprechen einzulösen, sie zu beschützen und sie wieder glücklich zu sehen. Ja, ich kann erkennen, dass er sein Schicksal auf sich genommen hat, mit dem Gleichmut und dieser Behendigkeit, die so typisch für ihn ist. Er war nicht zurückgekommen, um zu richten, sondern zu lieben. Seine Liebe war rein und gänzlich ohne Berechnung.

So ein Leben dauert viele Jahre, und so sehr sich der junge Mann bemühte, seines und das der jungen Frau zu ordnen, um beiden das Große Ziel zu ermöglichen, es gelang ihm nicht. Es ist uns nicht gegeben, das Leben eines anderen zu meistern, sondern ausschließlich das eigene. Das hatte der junge Mann nicht verstanden und das hatte ihm niemand beigebracht. Nach all den Jahrzehnten war die junge Frau alt geworden und hatte sich selbst vergessen, war der junge Mann erschöpft von Schuld- und Versagensgefühlen, die ihn unaufhörlich begleiteten, denn all seine Weisheit und sein Verständnis hatten nichts gegen ihre Weigerung auszurichten vermocht, ihn als den zu erkennen, der er war.